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"Das Deutsche Reich war Protokollant des armenischen Völkermords"

Das Gespräch führte Steffen Leidel24. April 2005

Der Leiter des Instituts für Genozidforschung Mihran Dabag ist Sohn Überlebender des Massakers an den Armeniern 1915. Im DW-WORLD-Interview fordert er die Türkei auf, sich "endlich" ihrer Geschichte zu stellen.

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Mihran DabagBild: privat

DW-WORLD: 90 Jahre nach der Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern im damaligen Osmanischen Reich ist die Diskussion wieder aufgeflammt, ob hier von einem Völkermord zu sprechen ist oder nicht. Wie bewerten Sie die Diskussion?

Mihran Dabag: Die Diskussion ist sehr wichtig. Nach dieser Leugnung des Völkermords, die seit der Gründung der Türkei erfolgt, braucht es aber eine eindeutige Antwort. Doch sehe ich auch in der gegenwärtigen Diskussion noch Beschreibungen, wie die Rede vom ethnischen Konflikt, die eine Konzession gegenüber der Leugnungspolitik der Türkei bedeuten. Unsere europäische politische Kultur, die wir nach der Erfahrung des Holocaust entwickelt haben, verbietet uns solche relativierende Ansätze gegenüber einem Völkermord. Ich bedaure sehr, wie mit dem Thema umgegangen wird. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es so behandelt wird wie ein Fußballspiel. Die Frage wird nicht ernsthaft diskutiert und das ist beschämend. Es ist an der Zeit, dass die Türkei sich ihrer Vergangenheit stellt und damit auseinandersetzt. Auf die Zukunft hat sie lange genug geschaut.

Warum ist es so wichtig, dass der Begriff Genozid benutzt wird?

Genozid ist zunächst eine juristische Kategorie, die einen Tatbestand beschreibt. Es gibt keinen Zweifel an der Zulässigkeit dieser Bezeichnung. Es handelt sich eindeutig um Völkermord. Es gibt keinen ernsthaften Wissenschaftler, der das Gegenteil behauptet. Auch sehe ich nicht, dass die Geschichtswissenschaftler eine Aufgabe haben, diesen Begriff zu füllen. Im Gegenteil: die Forschung braucht dieses Ja zum Genozid als Entlastung von der Beweiserbringung. In der gegenwärtigen Diskussion geht es ja nicht um eine umstrittene Geschichte. Es geht nicht um die Frage Völkermord ja oder nein. Es geht um die politische Antwort auf die Leugnung dieser Geschichte.

Die Türkei argumentiert, es seien weitere Untersuchungen notwendig über das, was vor 90 Jahren geschah.

Das ist eine taktische Überlegung, die sich auch in den türkischen Medien widerspiegelt. Bekannte türkische Journalisten fordern dies auch. Es geht darum, Zeit zu gewinnen, damit eine erinnerungslose Gesellschaft in der Türkei entsteht. Es soll so viel Zeit vergehen, dass es keine Erinnerung mehr an den Genozid an den Armeniern gibt. Das ist eine ganz wohlüberlegte Strategie der Türkei. Eine erinnerungslose Gesellschaft wird aber auch keinen Dialog mehr über ihre Geschichte führen können. Denn über das Nichts kann man nun mal nicht mehr reden.

Was halten Sie davon, dass man den EU-Beitritt an die Frage der Anerkennung des Genozids koppelt. Das Europäische Parlament hat das ja gefordert.


Das ist wichtig angesichts der Leugnungspolitik der Türkei. Europäische Identität basiert gerade auf der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der Vernichtung der Juden in Europa. In den europäischen Ländern hat sich ein Konsens bezüglich der Verurteilung von Genozid gebildet. Das gehört zu unseren Grundwerten. Eine Türkei, die einen solchen Grundkonsens nicht akzeptiert, ist eine Gefährdung der europäischen politischen Kultur.

Also Beitritt nur unter der Bedingung der Anerkennung des Genozids?

Das sehe ich eindeutig so.

Frankreich, die Niederlande oder die Schweiz sprechen offiziell von Genozid. Deutschland ist da zurückhaltender. Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands heute?

Es gibt einen Fortschritt. Denn vor zwei Jahren konnten Sie dieses Thema nicht einmal ansprechen. Aber die Auseinandersetzung geht noch nicht weit genug. Der Antrag der Unionsfraktion (der am Donnerstag, 21.4.2005, im Bundestag debattiert wurde. Anmerkung d. Redaktion) spricht nicht von Völkermord, sondern von Vertreibung und Massaker. Massaker ist eine Kategorie der Bewertung wie Völkermord. Mit diesen relativierenden Begriffen werden die Ereignisse aber heruntergespielt. Diese Begrifflichkeit hilft der Türkei, indem sie ihr als Überbrückungskategorie dient. Ich finde, nach 90 Jahren Leugnung dürfen keine relativierenden Kategorien Verwendung finden. Sie brauchen eine klare Begrifflichkeit, damit auch eine freie Forschung möglich wird, ebenso wie eine uneingeschränkte Erzählung.

Lesen Sie im zweiten Teil, inwiefern das Deutsche Reich in den Völkermord an den Armeniern verwickelt war und wieso die Stimmen der Überlebenden kaum gehört wurden.



Wie sehen Sie die Rolle des Deutschen Reiches damals? Unter Historikern besteht Einigkeit, dass Deutschland als Verbündeter der Türkei über die Deportationen, Todesmärsche und Überfälle informiert war.

Ich würde das Deutsche Reich, den damaligen Bündnispartner des Osmanischen Reichs, als Protokollant des Völkermords bezeichnen. Keine diplomatische Vertretung, kein Land konnte die Ereignisse so nah beobachten wie die deutschen Diplomaten oder Offiziere. Das Deutsche Reich hat als Verbündeter des Osmanischen Reiches einer Deportation der Armenier zugestimmt. Davon bin ich überzeugt. Das sind die Schlüsse, die ich aus dem Aktenstudium ziehen kann. Ob das Deutsche Reich einer Vernichtung der Armenier nicht nur zugestimmt hat, sondern die Verantwortung auch weiter ging, das ist eine Frage, die heute noch nicht zu beantworten ist.

Inwiefern kann hier von einer Mitschuld des Deutschen Reiches gesprochen werden?

Die deutschen Offiziellen wären in der Lage gewesen, die Deportation zu verhindern. Aber sie haben von Anfang an einer Deportation zugestimmt. Die Argumente in der Debatte über die Deportation der Armenier aus Anatolien lassen sich bis in die 1890er-Jahre zurückverfolgen. Die Zukunft des Osmanischen Reiches war ein Thema im Deutschen Reich und die Idee der Deportation der Armenier viel diskutiert. Diese Idee führte auch dazu, dass sich das deutsche Reich mit einer Deportation der Armenier einverstanden erklärt hat.

Sie sind nicht nur als Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung mit dem Thema betraut, sondern haben auch einen ganz persönlichen Bezug. Inwiefern?

Ich bin Sohn eines armenischen Vaters und einer aramäischen Mutter. Beide überlebten den Genozid und ich bin mit ihren Erzählungen aufgewachsen.

Wie sind die Überlebenden mit dem Thema umgegangen?

Die Erinnerung wurde im familiären Kreise weitergegeben. Nach außen fand die Erzählung nicht statt. Es gibt keine armenische Familie in der Türkei oder in der Diaspora, die nicht diese Geschichte hat. Aber diese Geschichte darf nicht erzählt werden, das ist das schlimmste. Doch auch die türkische Erinnerung darf nicht erzählt werden. Wenn Sie heute mit Türken zusammenkommen und über diese Ereignisse sprechen, dann werden - noch - jene Geschichten erzählt, die in den türkischen Geschichten von den Großeltern und Eltern weitergegeben wurden. Was ich der offiziellen Türkei und ihren Eliten vorwerfe, ist, dass sie durch die Verhinderung der Erinnerung der eigenen Bevölkerung die Chance genommen haben, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Jeder Kritiker wird zu einem Feind der Nation, zu einem Verräter erklärt, wenn er eine aufrichtige Haltung gegenüber der türkischen Geschichte einnimmt. Großen Verrat an ihrem Land verüben aber diejenigen, die ihrem Land die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte verwehren. Und das tut die türkische Elite mit ihrer systematischen Leugnungspolitik.

Sie haben 138 Lebensberichte von Armeniern über den Genozid gesammelt. Die meisten sind unveröffentlicht. Woran liegt das?

Über ein Thema zu forschen ist nur möglich, wenn es als ein Thema, relevant für die Grundlagenforschung, relevant für eine Forschungslandschaft, anerkannt ist. Jede Forschung braucht einen Förderrahmen und eine Diskussionsrahmen. Jede Forschung über die armenische Geschichte steht aber unter dem Zwang, zunächst den Genozid selbst beweisen zu müssen. Oder unter dem Verdacht, dies ist ein weiteres problematisches Ergebnis der jahrzehntelangen türkischen Leugnungspolitik, "politische", "ethnisch" motivierte Forschung zu sein. Die Rücksichtsnahme gegenüber der Türkei hat bisher sogar die Forschung im Bereich der Langzeittraumata der armenischen Überlebenden verhindert. Ich hoffe sehr, dass nach dieser Debatte anlässlich des Gedenktages am 24. April vielleicht mehr Projekte gefördert werden.