Das Erbe der Welt erforschen
11. Juli 2013Im kleinen Büro von Marie-Theres Albert herrscht Hochbetrieb. Während andere Professoren und ihre Studenten längst Ferien machen, muss sie die Sommerakademie vorbereiten, für die sich Kollegen aus aller Welt angemeldet haben. Der junge Chinese Meng hat ihr gerade seine Promotion auf den Schreibtisch gelegt. Sein Thema: die Bedeutung des indischen Tanzes in Singapur. Nichts, das zu exotisch wäre, als dass es nicht genau hier, an diesem Lehrstuhl, in dieser Stadt, seinen Platz hätte.
"Das ist bei uns Alltag", erzählt Marie-Theres Albert mit unverhohlener Freude. Sie genießt die Internationalität und das in jeder Hinsicht Außergewöhnliche, das ihr Lehrstuhl "World Heritage Studies" zwangsläufig mit sich bringt. Meng ist einer von insgesamt 13 Promotions- und 113 Masterstudenten, die in Cottbus lernen, wie das Kultur- und Naturerbe der Menschheit bewahrt werden kann. Mengs indischer Tanz gehört geradezu exemplarisch dazu: "Ein Tänzer steht nicht nur für seine eigene Kultur", erklärt er und weiß genau, wovon er spricht, denn vor seinem Studium in Cottbus hat Meng als Tänzer in Singapur gearbeitet. "Durch den Tanz werden kulturelle und nationale und Geschlechtergrenzen überwunden", betont er. "Was übrig bleibt, sind Menschen."
Harter Kampf um den UNESCO-Lehrstuhl
Von Singapur ins kleine Cottbus – auf den ersten Blick erscheint das vielleicht ungewöhnlich. 1999 rief die Brandenburgische Technische Universität das Welterbe-Studium ins Leben, seit 2003 leitet Marie-Theres Albert den Studiengang, ihr Lehrstuhl ist einer von insgesamt zehn UNESCO-Lehrstühlen in Deutschland. Längst treffen sich Kulturwissenschaftler aus der ganzen Welt in Cottbus nahe der deutsch-polnischen Grenze.
Marie-Theres Albert hat für die Auszeichnung gekämpft. Und das nicht etwa, weil der materielle Anreiz so groß gewesen wäre. "Geld muss man mitbringen, um überhaupt einen UNESCO-Lehrstuhl zu kriegen", sagt sie. "Da muss man die sogenannten Drittmittel nachweisen, unzählige Projekte starten." Was sie durchhalten ließ, war ihre Überzeugung, dass die Menschen heute in einer Welt der Vielfalt leben, die sie kaum noch fassen können. "Deshalb brauchen wir Anhaltspunkte, woran wir uns orientieren können", glaubt Albert. "Und wie könnte man die heutige Welt besser verstehen als in der Auseinandersetzung mit dem Erbe?"
Vom Pionier zum internationalen Vorbild
Wer Marie-Theres Albert begegnet, wird unwillkürlich in ihren Bann gezogen: ein fester Händedruck, rote Lippen, ein offenes Lächeln und ein selbstbewusster Blick, dem das Gegenüber erst einmal standhalten muss. Sie weiß sehr genau, was sie in Cottbus geleistet hat. Denn es bedurfte vieler Jahre und unermüdlicher Überzeugungsarbeit, ausgerechnet an einer Technischen Universität einen fachübergreifenden Studiengang für Kulturwissenschaftler zu etablieren. Nicht selten, erzählt die Professorin, habe sie sich an der eigenen Uni fragen lassen müssen, was das für ein Blödsinn sei.
Heute hat der Lehrstuhl international geradezu Modellcharakter. Zu den Studieninhalten zählen Architektur und Denkmalpflege. Ökologie und Landschaftsplanung sind ebenso gefragt wie ganz technische Kenntnisse aus dem Bauingenieurwesen. Die Pionierarbeit der Cottbuser hat international längst einen Namen. "Egal, wo ich hinkomme, heißt es immer: Ach ja, du kommst aus Cottbus“, so Albert. "Wir waren mit dem Masterprogramm für das Welterbe-Studium die ersten und wir sind es jetzt mit dem Promotionsprogramm."
Handverlesene Studierende
Unter den Welterbe-Studienangeboten rund um den Globus sei Cottbus führend und akzeptiert, betont die Professorin. So verwundert es nicht, dass die Absolventen später weltweit beste Jobchancen haben. Wenn Marie-Theres Albert über ihre Studenten spricht, gerät sie regelrecht ins Schwärmen. "Alle bringen unterschiedliche Fachkompetenzen mit und vor allem: ihre Kultur." In ihren Seminaren ergäbe sich Weltläufigkeit von ganz alleine. "Wenn zehn Studenten aus zehn verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, dann ist das Interkulturalität. Da muss ich mit meinem Lehrstuhl eigentlich nichts mehr erklären."
Es spiele keine Rolle, woher der einzelne Studierende komme, betont auch Eike Schmedt. Er ist in Goslar aufgewachsen, einer der wenigen Studenten, die aus Deutschland selbst kommen. Schmedt ist 26 Jahre alt und hat bereits einen Studienabschluss in der Tasche, denn das ist die Voraussetzung für das viersemestrige Masterstudium in Cottbus, das komplett in englischer Sprache stattfindet.
Vielfalt ist Reichtum
Eike Schmedt genießt den Austausch mit Studenten seiner Fachrichtung aus anderen Ländern, anderen Kulturen. Hier in Cottbus sei die Herkunft überhaupt kein Thema, allenfalls wenn es um Fachliches gehe. "Wie ich Dinge beispielsweise im Gegensatz zu einem Kulturwissenschaftler aus den USA auffasse, ist ungemein spannend", meint er. Allein in seinem Jahrgang seien Leute aus 30 Nationen. "Das ist eine riesige Bereicherung."
Einander verstehen lernen ist damit der schönste selbstverständliche Bestandteil der Ausbildung - Unterschiedlichkeit nicht als Bedrohung anzusehen, sondern als Chance. Denn wie soll man denn in einer globalisierten Welt Kultur überhaupt noch begreifen, wenn nicht in ihrer Vielfalt und mit Respekt vor dem vermeintlich Fremden? Marie-Theres Albert diskutiert das leidenschaftlich und mit jedem ihrer Studierenden aufs Neue. "Welterbe ist Reichtum", lautet ihre Überzeugung. "Und Reichtum ist Vielfalt. Das ist es, was wir mit diesen Studiengängen erreichen wollen."