Türkei: Fenster für unabhängige Medien schließt sich
Das Fenster für unabhängigen Journalismus in der Türkei schließt sich immer weiter. Dass die Pressefreiheit dort stark eingeschränkt wird, ist zwar keine neue Entwicklung: Insbesondere seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden Dutzende Medienschaffende festgenommen und in unfairen Prozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Auch der Medienpluralismus ist weitgehend zerstört. Doch die sozialen Medien waren bis jetzt ein letzter Zufluchtsort für kritische Medienschaffende in der Türkei.
Präsident Recep Tayyip Erdogan ist politisch geschwächt. Er war zuletzt vor allem auf sozialen Medien harsch für sein Coronavirus-Management kritisiert worden. In der Türkei gibt es mehr als 37 Millionen Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer; 16 Millionen Menschen sind auf Twitter unterwegs. Um seine Kritikerinnen und Kritiker zum Schweigen zu bringen, will er nun auch internationale Plattformen national kontrollieren.
Unabhängige Online-Medien werden drangsaliert
Mit der Verabschiedung im Parlament wurde das Gesetz gegen Internetverbrechen jetzt geändert. Das 2007 erlassene Gesetz wurde schon vorher massiv ausgenutzt, um unabhängige Online-Medien zum Schweigen zu bringen. Dabei berufen sich die Strafverfolgungsbehörden auf einen Tatbestand, der Beleidigungen und Bedrohungen der nationalen Sicherheit unter Strafe stellt.
Die Erweiterung des Gesetzes sieht nun vor, dass jede soziale Medienplattform mit mehr als einer Million täglicher Nutzerinnen und Nutzer einen Repräsentanten in der Türkei benennen muss, an den sich die türkischen Behörden wenden können, wenn sie Fälle von Beleidigungen, Einschüchterungen und Verletzungen der Privatsphäre beanstanden wollen. Sollten sich die Plattformen weigern, einen Türkei-Vertreter zu ernennen, werden sie schrittweise sanktioniert.
Die türkischen Behörden wollen zudem durchsetzen, dass die Plattformen einen Mechanismus schaffen, um innerhalb von 48 Stunden auf Beschwerden über "Verletzungen der Persönlichkeitsrechte" oder auf gerichtliche Anordnungen zur Entfernung von Inhalten zu reagieren. Werden beleidigende Inhalte nicht entfernt, werden Webseiten innerhalb von vier Stunden geblockt. Internetprovider, die die Beanstandungen der türkischen Behörden nicht an die betroffenen Personen weiterleiten, müssen mit einer hohen Geldstrafe rechnen.
Kontrolle der sozialen Medien unterdrückt politischen Protest
Reporter ohne Grenzen verurteilt diese Ausweitung des Gesetzes. Es ist eindeutig, dass eine Kontrolle der Social-Media-Plattformen darauf abzielt, die wachsenden politischen Unruhen einzudämmen und dass dies Folgen für den Zugang zu unabhängigen Informationen haben wird, die gerade in einer so polarisierten Gesellschaft wie in der Türkei von entscheidender Bedeutung sind.
Die Erweiterung des Gesetzes kommt zudem zu einer Zeit, in der sich die Zensur von Online-Medien verschärft hat. Im Jahr 2018 zum Beispiel haben türkische Gerichte den Zugang zu mindestens 2.950 Artikeln und journalistischen Inhalten blockiert, darunter Recherchen und Berichte über politische Korruption, Klientelpolitik, Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Zudem wurden unzählige Inhalte auch ohne Verweis auf die Gerichte blockiert.
Und noch etwas bereitet uns Sorgen: Mit der Erweiterung des Gesetzes passiert nun auch in der Türkei genau das, wovor wir von Anfang an gewarnt haben: Autoritäre Regime erlassen Gesetze zur Kontrolle von Social-Media-Plattformen und berufen sich dabei unter anderem auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das seit 2017 unter anderem Hasskriminalität in sozialen Netzwerken unterbinden soll.
Christian Mihr ist Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland, einer internationalen NGO für Pressefreiheit und gegen Zensur. Er beschäftigt sich unter anderem ausführlich mit der Situation des Journalismus in der Türkei.