Das Fleisch-Paradox: Töten ohne es zu wollen
6. Februar 2021Das Schaf zappelt. Kai muss das Bolzenschussgerät ein paar Mal ansetzen, er zögert. Ich frage mich, ob er doch noch einen Rückzieher macht? Doch dann atmet er tief durch und drückt ab. Das sechs Monate alte Schaf bricht sofort zusammen. Der Bolzenschuss allein tötet es nicht. Kai muss dem Tier die Kehle durchschneiden. Der Schlachter hilft ihm dabei, damit es schneller geht.
Fast 60 Kilogramm Fleisch verzehrt ein Deutscher pro Jahr. In den USA und Australien sind es mehr als 100 Kilogramm. Die wenigsten töten, zerlegen und verarbeiten die Tiere selbst, sondern kaufen sie stückchenweise im Supermarkt oder beim Metzger. Das macht es dem Konsumenten leicht zu vergessen, dass das Steak mal Teil eines Lebewesens war.
Das Fleisch auf dem Teller von dem Lebewesen zu entkoppeln, das es einmal war, hilft aus dem Dilemma des sogenannten Fleisch-Paradoxes: Dem Verlangen nach Fleisch und dem Wunsch, weder Leid noch Tod mit zu verantworten.
Kai steht nun allerdings in einer Lache aus Blut, das Schaf hat endlich aufgehört zu zucken und liegt leblos zu seinen Füßen. Vergessen und verdrängen kann er gerade gar nichts. Er kämpft mit den Tränen und versucht zu begreifen, was gerade passiert ist. "Ich habe ein Tier getötet."
Umweltproblem Fleisch
Kai ist mein Kollege und hat die Schlachtung des Schafes für das Deutsche Welle-Format "Planet A" durchgeführt. Auf Planet A beschäftigen sich die Kollegen mit Umweltthemen wie Recycling, dem Plastikproblem und der Verschwendung von Nahrung.
Wer über Umweltschäden und Klimawandel sprechen möchte, der kommt um den Fleischkonsum nicht herum. Laut dem von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sowie der Zeitung "Le Monde diplomatique" herausgebrachten Fleischatlas 2021 werden 70 Prozent der globalen landwirtschaftlichen Flächen für die Viehzucht genutzt.
Auf 40 Prozent dieser Fläche werden Futtermittel angebaut, vor allem Soja. Weil der Fleischhunger steigt und damit auch der Bedarf an Futter und Weideland für die Tiere, müssen Wald und Grasland weichen. Biodiversität und CO2-speichernde Pflanzen verschwinden.
Um ein Kilo Rindfleisch zu produzieren, sind im Schnitt mehr als 15.000 Liter Wasser notwendig. Die industrielle Massentierhaltung, die besonders viel Wasser verbraucht, hat ausgetrocknete Flüsse und Feuchtgebiete, sinkende Grundwasserspiegel und versalzene Böden zur Folge.
Die Liste der Verheerungen ließe sich noch eine Weile fortführen. Zum Beispiel mit den gesundheitlichen Folgen, die der außer Kontrolle geratene Fleischkonsum hat. Der Einsatz von Antibiotika führt zu multiresistenten Keimen und die Vernichtung von Ökosystemen zu einem munteren Austausch von Viren zwischen Mensch und Tier.
Gelebter Widerspruch
Weil Kai das alles weiß, drehen meine Kollegen diese Folge. Was er auch schon immer wusste ist, dass das Fleisch auf seinem Teller nicht friedlich entschlafen ist oder zu Tode gekuschelt wurde. Kai isst es trotzdem gerne – wenn auch mit Gewissensbissen. Damit ist mein Kollege nicht allein, im Gegenteil.
Ich habe einen Aufruf in verschiedenen sozialen Netzwerken gestartet, um einen Eindruck zu bekommen wie verbreitet das Fleisch-Paradox ist. Mithilfe meiner Kollegen aus den verschiedenen Sprachredaktionen der Deutschen Welle sammle ich Kommentare aus Deutschland, afrikanischen Ländern und dem Nahen Osten. Weil nicht alle Kommentatoren ihren genauen Herkunftsort verraten haben, sind teilweise nur die Redaktionen angegeben, aus denen mich die folgenden Nachrichten erreicht haben:
"Die Tiere tun mir leid und ich liebe sie sehr, aber ich esse Fleisch. Beides sind inkompatible Ideen. Diese Welt ist voller Lügen und Widersprüche." (Afrika-Redaktion)
"Ich liebe Fleisch sehr, aber es tut mir sehr leid, dass die Tiere verletzt oder getötet werden." (Afrika-Redaktion)
"Egal wie hart ein Herz sein kann, ein Tier in seinem Blut zu sehen ist nicht leicht zu ertragen. Ich esse trotzdem Fleisch." (Charles, Afrika-Redaktion)
Benjamin Buttlar ist Sozialpsychologe an der Universität Trier und forscht zum Fleisch-Paradox. Er geht davon aus, dass das moralische Grundprinzip nicht töten und kein Leid zufügen zu wollen erstmal für alle Menschen gilt, unabhängig vom kulturellen Hintergrund.
Um sich von diesen moralischen Standards zumindest teilweise zu lösen hat die Menschheit eine ganze Reihe von Rechtfertigungsstrategien entwickelt. Seit 2010 steigt dabei die Zahl an Wissenschaftlern stetig an, die das Verhältnis zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren erforscht.
Was ist der Unterschied zwischen Hund und Schwein?
Veröffentlichungen von Biologen wie Donald Broom oder der Neurowissenschftlerin Lori Marino beschreiben es als hochsozial, intelligent und mitfühlend. Es habe eine Art von Ich-Bewusstsein. Die Rede ist vom Schwein. Trotz dieses Empfindungsreichtums und seiner sozialen Kompetenzen ist das Schwein in der Kategorie "Nutztier" gelandet und wird – gleich nach Geflügel – weltweit am häufigsten verzehrt.
Die Unterscheidung zwischen Nutz- und Haustier ist eine Strategie, das Fleisch-Paradox aufzulösen. Dichotomisieren nennt die Psychologin und Publizistin Melanie Joy diese Unterscheidung in zwei Kategorien. Sie gehe damit einher, dass Fleischesser Nutztieren die Empfindsamkeit absprechen. Das individuelle Wesen des Tieres, das wir bei unserem Hund oder der Katze niemals leugnen würden, erkennen wir Nutztieren gewisserweise ab, sagt Buttlar.
Die vier Ns
"Außerdem gibt es ganz spezifische Rationalisierungsstrategien, mit denen wir die Verantwortung abgeben können", sagt Buttlar. Der Psychologe spricht von den drei Ns des Fleischkonsums: Normal, notwendig, natürlich.
"Ich esse Fleisch. Als Kind war das sowieso schon ganz normal. Meine Oma und Mama haben immer sehr traditionell Kölsch und Rheinländisch gekocht. Das ist eben auch Blutwurst, Sauerbraten, Rouladen und Co. Mein Papa hat immer gesagt, man muss alles mal probieren. Und danach habe ich immer gelebt." (Köln, Deutschland)
"Da ich viel Sport betreibe bei dem zum Beispiel Muskelaufbau eines der Hauptziele ist und ich sehr auf die Erfüllung meines täglichen Makrobedarfs achte, ist der Verzehr von Fleisch quasi 'unumgänglich'." (Deutschland)
"Gott schuf Tiere für uns zum Essen. Aus diesem Grund fühle mich also nicht schlecht." (Afrika-Redaktion)
Dazu kommt ein weiteres N, sagt Buttlar – es steht für "nice". Fleisch schmeckt vielen Menschen viel zu gut, als dass sie darauf verzichten wollten.
Nachdem Kai dem Schaf die Kehle durchgeschnitten hat, nachdem das Tier aufgehört hat zu zucken, steht er da und starrt auf die Szenerie. Allein in Deutschland wurden 2019 763 Millionen Tiere geschlachtet. Weltweit sind es mehr als 70 Milliarden pro Jahr. Kai schaut kurz in die Kamera: "Nur, damit wir Fleisch essen können?"
First World Problem?
Die meisten dieser Tiere werden in den Industrienationen gezüchtet und geschlachtet – nicht von Hand natürlich, sondern massenhaft am Fließband. Allein China produziert, laut Fleischatlas, rund ein Drittel der globalen Fleischmenge.
Auf dem afrikanischen Kontinent hingegen liegt der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch bei 17 Kilogramm Fleisch im Jahr – und beträgt damit nur knapp ein Sechstel der Top-Verbraucher Australien und USA. Hat diese Schieflage einen Einfluss auf das Fleisch-Paradox?
"Wenn ich Fleisch sehe, denke ich nicht mal an meine Familie, schon gar nicht an die Tiere. Vielleicht ist es so, weil Fleisch (in der Heimat) so teuer war, dass wir uns sehr gefreut haben, wenn wir es überhaupt bekamen." (Syrer, lebt jetzt in Deutschland)
"Luxus Problem." (Afrika-Redaktion)
"Diese Idee gilt nicht für uns. Erzählen Sie es den Westlern, die sich Sorgen um das Leben von Mensch und Tier machen." (Afrika-Redaktion)
"Die Dissonanz, also der dem Fleisch-Paradox zugrunde liegende psychologische Prozess, wird schon als universell angenommen", sagt Buttlar. Als Dissonanz wird der unangenehme Gefühlszustand bezeichnet, bei dem sich – vereinfacht gesagt - zwei unvereinbare Gedankengänge gegenüberstehen: Der Tod und der Schmerz des Tieres tun mir leid, aber ich will trotzdem Fleisch essen.
Buttlar erzählt von einer der wenigen Veröffentlichungen, die sich mit den interkulturellen Unterschieden im Zusammenhang mit dem Fleisch-Paradox beschäftigen: Hier stellten die Forschenden fest, dass sich bestimmte Dinge durchaus von einer Kultur in eine andere übertragen ließen.
Beispielsweise der gesteigerte Ekel, der empfunden wird, sobald den Probanden ein Schwein mitsamt Kopf gezeigt wurde. Ein totes Tier in Gänze zu sehen, machte die Verbindung zwischen dem Fleisch und dessen tierischen Ursprungs für alle sichtbarer – die Lust, das Schwein zu essen, schwand. Wie groß der Unterschied ist, hat auch Kai erfahren: "Sobald der Kopf abgetrennt und das Schaf gehäutet war, war es nur noch Fleisch."
Selbstrelevanz entscheidend für das Fleisch-Paradox
Allerdings, so Buttlar, legen diese Studien nahe, dass dieser Effekt bei Menschen aus Ländern, in denen häufiger selbst geschlachtet wird, geringer ist als bei denen, die Fleisch vor allem in verarbeiteter Form als Döner oder Chicken Nuggets erleben.
Die Studien lassen außerdem vermuten, dass die Dissonanz stärker empfunden werde, je relevanter das Thema für die Person sei, so Buttlar. Dabei werden nicht alle Tiere, die auf der Welt gegessen werden, abgewertet, sondern vor allem diejenigen, die in der eigenen Kultur gegessen werden. Auch das ist ein Indiz dafür, dass für Menschen das Fleischparadox tatsächlich kulturübergreifend eine Rolle spielt, es sich jedoch von Kultur zu Kultur unterschiedlich auswirkt.
Die Macht von Norm und Gewohnheit
Neben all den psychologischen Prozessen, mit denen Menschen dem Fleisch-Paradox beizukommen versuchen, verzichten manche aber auch gänzlich auf Fleisch oder andere tierische Produkte, um die Dissonanz endgültig aufzulösen.
"Es ist einfach Heuchelei: Wenn man nicht töten will, warum soll man dann essen?" (Afrika)
"Seit drei Jahren ernähre ich mich vegan. Ich sehne mich gar nicht mehr nach dem Fleisch. Ganz im Gegenteil: Die Fleischtheke im Supermarkt kommt mir wie ein Friedhof vor." (Jemenit, lebt in der Schweiz)
Auch ich habe mich nach 19 Jahren Vegetariertums vor ein paar Jahren dafür entschieden, vegan zu leben. Für mich war das die einfachste Strategie, um das Fleisch-Paradox aufzulösen. Einfach? Benjamin Buttlar widerspricht mir. Einfach sei das nicht unbedingt.
"Fleisch zu essen gehört in den meisten Gesellschaften zur Norm", sagt er. Wer wie ich aus einer Familie kommt, die voll von vegetarisch und vegan lebenden Menschen ist, der hat es viel leichter. In Kais Familie hingegen ist Fleischkonsum ein fester Bestandteil des Lebens. Nach einiger Zeit der Abstinenz kehrte er zum Steak zurück. Aus Gewohnheit wahrscheinlich, er weiß es nicht genau.
In einer seiner Publikationen schreibt Benjamin Buttlar, dass Informationen über Umweltschäden und gesundheitliche Risiken durch Fleischkonsum weniger zu Verhaltensänderung führten, als moralische Bedenken.
Das Bild des mit eigenen Händen geschlachteten Tieres hat Kai lange nicht losgelassen: "Der Tod an sich ist überwältigend."