Das Kino und die 68er Bewegung
Nicht erst 1968 erlebte die Filmkunst einen entscheidenden Umbruch. Schon Jahre zuvor war die ästhetische und inhaltliche Revolte bei Regisseuren aus aller Welt spürbar - in Europa, den USA und anderen Weltregionen.
Start mit der Nouvelle Vague
Das Kino hat '68 vorweggenommen, vor allem in Frankreich. Von den zahlreichen filmischen Neuerungsbewegungen war die französische "Nouvelle Vague" die wichtigste. Die Regisseure lehnten alles ab, was mit muffiger Nachkriegszeit und ästhetischen Kompromissen zu tun hatte. Der berühmteste Film der "Nouvelle Vague", Jean Luc Godards "Außer Atem", entstand 1959 - und leitete die Kinorevolution ein.
Freie Liebe bei Truffaut
Neben Godard wurde François Truffaut zum bekanntesten Gesicht der "Nouvelle Vague". Truffauts Filme waren populärer als die seines Freundes Godard, mit dem er sich später überwarf. Filme wie "Jules und Jim" (1961, Foto oben) proklamierten neue Formen der Liebe und deuteten an, was 1968 breite gesellschaftliche Relevanz erlangen sollte: ein anderer Umgang mit Sexualität und ein neues Frauenbild.
Deutscher Intellekt: Alexander Kluge
Auch in Deutschland gab es in den 60er-Jahren eine "Neue Welle". Sie drückte sich 1962 im "Oberhausener Manifest" aus, in dem zahlreiche Filmemacher eine Abkehr vom verstaubten deutschen Nachkriegskino forderten. Der Regisseur Alexander Kluge wurde zum intellektuellen Kopf des deutschen Kino-Aufbruchs. Sein bekanntester Film "Abschied von Gestern" bot schon vom Titel her eine klare Ansage.
Arbeitstier Fassbinder
Weltweite Anerkennung brachten dem deutschen Kino-Aufbruch vor allem auch die Filme des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder. Seinen ersten langen Spielfilm, "Liebe ist kälter als der Tod", brachte er 1969 in die Kinos. Fassbinder scherte sich nicht um Konventionen und war ästhetisch, aber auch inhaltlich, ein wahrhafter Revolutionär mit einem schier unermüdlichen Arbeitseifer.
Abgewürgter Aufbruch in der DDR
Für einen kurzen Zeitraum schien es Mitte der 60er-Jahre so, als ob es auch im anderen Teil Deutschlands eine neue Kino-Welle geben sollte. Unter dem Schlagwort "Kaninchenfilme", eine Anspielung auf den Film "Das Kaninchen bin ich", wurden sie bekannt: Ein Dutzend Arbeiten von DDR-Regisseuren aus den Jahren 65/66, die formal und inhaltlich neue Wege beschritten. Doch sie wurden allesamt verboten.
Osteuropäisches Erwachen
Wie in der DDR versuchten auch in anderen Ländern Osteuropas Regisseurinnen und Regisseure Konventionen aufzubrechen. Vor allem in Ungarn und in der ČSSR entstanden zahlreiche formal aufsehenerregende und mutige Werke. Regisseure wie Věra Chytilová, Jiří Menzel und Miloš Forman wurden weltweit bekannt, ihre Filme - hier eine Szene aus Formans "Liebe einer Blondine" - auch im Ausland ausgezeichnet.
Lateinamerikanischer Aufbruch
In Lateinamerika erfasste insbesondere die brasilianische Filmszene eine Aufbruchsstimmung, die unter dem Begriff "Cinema Novo" bekannt wurde. Deren bedeutenster Vertreter war der Regisseur Glauber Rocha, dessen Filme gesellschaftlichen Veränderungen nachspürten. In Werken wie "Anotiono das Mortes" (1969) befasste sich Rocha mit den sozialen und kulturellen Widersprüchen der Bauern in Brasilien.
Proteste und Sexualität: Nagisa Ōshima
Revolutionäres tat sich auch im japanischen Kino. Hier war es vor allem Nagisa Ōshima, dessen Arbeiten den Geist der Jahre um 1968 atmeten. Mit radikalen filmischen Entwürfen streifte Ōshima filmische Konventionen ab. In Werken wie "Über japanische Lieder der Unzucht" (1967) untersuchte der Regisseur vor allem auch das veränderte Verhalten von jungen Menschen in Sachen Gewalt und Sexualität.
New Hollywood in den USA
Natürlich tat sich auch in den USA etwas im Kino jener Jahre. Eine ganze Reihe von Regisseuren, die unter dem Begriff "New Hollywood" bekannt wurden, löste sich vom verkrusteten Hollywood-System der großen Studios an der Westküste. Wie kein anderes Werk "New Hollywoods" steht "Easy Rider" mit Dennis Hopper und Peter Fonda für diese Entwicklung. "Easy Rider" wurde im Frühjahr '68 gedreht.
Das Ende aller Träume: "Zabriskie Point"
Als einen Endpunkt des weltweiten Phänomens des '68-er Kinos kann man Michelangelo Antonionis "Zabriskie Point" deuten. Der Film des Italieners entstand in den USA und reflektierte bereits, was nach '68 folgte: Flower-Power und Hippie-Bewegung. Der Film endet symbolträchtig mit gewaltigen Explosionen einer Villa und Konsumgütern: die idealistischen Aufbruchjahre hatten auch ihre Unschuld verloren.