Das lange Nachkriegsbeben in Nahost
16. Mai 2014Tunis, Kairo, Damaskus, Sanaa: Quer durch die ganze arabische Welt gingen die Menschen im Frühjahr 2011 auf die Straße, um gegen die Despoten an der Spitze ihrer Länder zu protestieren. Die Demonstranten machten sich für konkrete politische Veränderungen stark. Doch hinter diesem Anliegen, schreibt der tunesische Philosoph Abdelwahab Meddeb, verberge sich noch ein weiteres Motiv. Die Proteste seien vor allem ein Aufbruch in eine neue Zeit. Was die Araber im Jahr 2011 zustande gebracht hätten, so Meddeb in seinem Essay "Printemps de Tunis. La Métamorphose de l´Histoire" ("Der Frühling von Tunis. Die Verwandlung der Geschichte"), habe eine historische Wucht, die durchaus der französischen Revolution oder dem Fall der Berliner Mauer vergleichbar sei. "Mit der Ankunft der Araber und Muslime im Reich der Freiheit erlebt die Welt einen Neustart der Geschichte", schreibt Meddeb. "Nichts wird je wieder sein wie zuvor."
Tatsächlich lässt sich der arabische Frühling als politischer Neustart verstehen, als Bruch mit Überzeugungen und Ideologien, die ihren Ursprung im frühen 20. Jahrhundert, genauer: im Ersten Weltkrieg haben. Anders als in Europa standen sich die Menschen im Nahen Osten zwar nicht auf riesigen Schlachtfeldern gegenüber. Aber den Krieg und seine Folgen bekamen sie trotzdem in aller Wucht zu spüren. Denn keine Region wurde durch den Ersten Weltkrieg so sehr von den Füßen auf den Kopf gestellt wie der Nahe Osten.
Befreiung "vom türkischen Joch"
Im Jahr 1914 sind die heutigen arabischen Staaten Provinzen des Osmanischen Reiches. Über Jahrhunderte herrschten die Türken über ein Gebiet, das sich vom Süden der Arabischen Halbinsel bis nach Nordafrika erstreckt. Doch im 19. Jahrhundert ist ihre Kraft erschöpft. Das Imperium droht zu zerfallen, und da passt es, dass das Deutsche Reich sich dem Herrscher in Konstantinopel als Schutzmacht anbietet. In Konstantinopel geht man auf das Angebot ein – und verpflichtet sich im Gegenzug, an der Seite des Deutschen Reiches zu kämpfen, sollte dieses von Russland angegriffen werden.
Damit sind Deutschlands Gegner auf den Plan gerufen: England und Frankreich gehen auf die arabischen Statthalter zu und bieten ihnen an, gemeinsam für die Unabhängigkeit von Konstantinopel zu kämpfen. "Unsere Allianz wird die Türken aus den arabischen Ländern vertreiben und deren Bürger vom türkischen Joch befreien", schreibt der britische Diplomat Sir Henry McMahon im Oktober 1915 an Hussein Ibn Ali, den Herrscher von Mekka. Der lässt sich auf das Angebot ein und stößt im folgenden Jahr einen Aufstand an, in dessen Verlauf die Araber große Teile des Osmanischen Reichs erobern.
Auf deutscher Seite versucht die "Nachrichtenstelle für den Orient" die arabischen Führer auf die Seite Berlins zu ziehen. Deutlich umreißt deren Leiter, der Archäologe Max von Oppenheim, das Anliegen des Deutschen Reichs. "Unsere Konsuln in der Türkei und Indien, Agenten usw. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren." Die Botschaft hinter der Botschaft ist deutlich: Die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs sind Spielmasse des europäischen Kolonialismus.
Staaten vom Reißbrett
Beiden Seiten, den Deutschen wie den Briten, sind für ihre Ziele alle Mittel recht. Sie betreiben kalte Machtpolitik, für die Menschen der Region interessieren sie sich nicht. Das zeigt sich im Sykes-Picot-Abkommen vom Mai 1916, in dem sich Großbritannien und Frankreich darauf einigen, die von den Osmanen eroberten Gebiete unter sich aufzuteilen, ganz so, als hätten die den arabischen Führern gegebenen Unabhängigkeits-Garantien nie existiert. Am Reißbrett werden neue Grenzen gezogen: Großbritannien herrscht fortan über das Gebiet der heutigen Staaten Jordanien und Irak sowie Teile Israels. Frankreich hingegen kontrolliert Syrien und den Libanon. Palästina wird unter internationale Verwaltung gestellt. Dort wird wenige Jahre später der Staat Israel gegründet.
Neue Staaten entstehen, Grenzen trennen Regionen, die bislang durch vielerlei Beziehungen miteinander verbunden waren. Um die Bürger dieser Staaten an die neue Situation zu gewöhnen, stellen die Schutzmächte neue Identifikationsangebote bereit: Fortan sollen die Menschen sich über ihre Gruppenzugehörigkeit definieren - nicht nur, aber vor allem die religiöse. In jenen Jahren, schreibt die Historikerin Leyla Dakhli, sei eine Identitätspolitik entstanden, die die Region bis ins 21. Jahrhundert gekennzeichnet habe. Die Menschen definierten sich fortan als Sunniten, Schiiten, Christen, oder Griechisch-Orthodoxe. "Man wird gezwungen, seinen Platz zu finden. Der Gebrauch von Identitäten wird zur Strategie."
Mörderische Identitäten
Im ganzen Nahen Osten setzt sich die Logik der Gruppenidentität durch. Sie habe die Menschen in der arabischen Welt zu einem Freund-Feind-Denken erzogen, schreibt der libanesische Historiker Georges Cormdas, das für feinere Abstufungen keinen Raum mehr ließ. "Man beurteilt seinen Nachbarn, mit dem man seit ewigen Zeiten in Freud und Leid zusammengelebt hat, nicht mehr nach seinem Verhalten. Man sieht ihn nun als den Anderen, als jemanden, der die eigene Identität bedroht. Friedlichen und freundlichen Nachbarn begegnet man von nun an mit einem Gefühl lebhafter Abneigung.
Es sind diese "mörderischen Identitäten", wie der libanesische Autor Amin Malouf sie nannte, die auch in den Revolutionen des Jahres 2011 zur Debatte standen. Doch drei Jahre später schaut die Welt weniger optimistisch auf den Nahen Osten. Hundert Jahre Gruppendenken lassen sich nicht im Handumdrehen aus der Welt schaffen. Das Erbe des Ersten Weltkriegs wiegt schwer.