Das Leben geht weiter
9. September 2002New York, 7.9.2002
Das Herz von New York ist Times Square: Hier sitzen die Mediengiganten ABC, Bertelsmann, Reuters, New York Times. Hier geht man abends in die Theater am Broadway. Laufbänder verkünden Nachrichten über den Irak, Festnahmen in Deutschland und Börsenkurse. Irre, zehn Stockwerke hohe Lichtreklamen preisen Coca Cola, Autos, Unterhosen. Fußgängermassen wälzen sich rund um die Uhr über die Bürgersteige. Hier schläft die Stadt wirklich nicht. Das Leben geht weiter, 11. September hin oder her.
Das finden auch Cherryl und Nancy, zwei Studentinnen aus Brooklyn, die sich nachts als patriotische Fotomodelle am Times Square verdingen. Cherryl trägt die amerikanische Flagge knapp geschnitten überm Busen. Nancy gibt das "Supergirl". Für einen Dollar dürfen die Touristen mit "Miss America" posieren. Die beiden sind froh, dass sich das Alltagsleben in New York schnell normalisiert hat. Man denke zwar täglich an die Anschläge, aber das Lachen dürfe man nicht verlernen. "Es ist, als sei das World Trade Center ein verstorbenes Familienmitglied", sagt Supergirl. Man behält die schönen Erinnerungen, aber gewöhne sich auch an den Verlust.
Am Times Square gehört die Erinnerung zum Alltag und zum Geschäft. Eine Foto-Firma wirbt auf einem fassadenfüllenden Plakat mit einem Feuerwehrmann an Ground Zero, den neuen Helden der Stadt. Ein angesagter Modeschöpfer lockt auf der anderen Straßenseite mit patriotischen Boxershorts. Stars und Stripes fürs Gemächt. Und selbst der schmuddelige Obdachlose auf den Stufen zur Subway zeigt Flagge. Er hat zwar die grau-braune Farbe der Betonstufen angenommen, aber um die Stirn trägt er ein relativ sauberes Tuch mit weißen Sternen auf blauem Grund. Aus seiner Plastiktüte ragt ein kleines Sternenbanner. Das Leben geht weiter, und man gewöhnt sich dran.