Das Leid der Flüchtlinge in Libyen
16. Juli 2019Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) halten sich in Libyen rund 50.000 registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende auf, ebenso wie 800.000 weitere Migranten. Flüchtlinge sind nach UN-Definition Menschen, die vor Gewalt oder Verfolgung fliehen, andere Migranten suchen ein besseres Leben im Ausland.
Wie viele Geflüchtete in illegalen Lagern in dem von Gewalt und Chaos geprägten Land gefangen gehalten werden, ist nicht bekannt. Das Problem sei, dass im Bürgerkriegsland Libyen nicht von festen staatlichen Strukturen gesprochen werden könne, sagt Hyun-Ho Cha, Pressesprecher bei Amnesty International Deutschland. Daher gebe es keine scharfe Trennlinie zwischen "staatlichen" und illegalen Lagern. Auch die sogenannten staatlichen Lager würden vielfach von bewaffneten Milizen betrieben, staatliche Behörden hätten nur sehr wenig effektive Kontrolle. Menschenrechtsverletzungen ahnden zu lassen, sei kaum möglich, da die libysche Staatsanwaltschaft aufgrund des Bürgerkriegs kaum in der Lage sei, Ermittlungen durchzuführen.
Was über die libyschen Flüchtlingslager bekannt ist
"Manchmal sind die Geflüchteten buchstäblich aufeinander gestapelt, unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen und mit großen Schwierigkeiten, an Wasser zu gelangen - ab und zu gibt es überhaupt kein Trinkwasser", berichtet Benjamin Gaudin von der Hilfsorganisation "Première Urgence Internationale" (PUI) über die Zustände in libyschen Flüchtlingscamps. Laut Julien Raickmann, Leiter von "Ärzte ohne Grenzen" in Libyen, sterben in den Lagern immer wieder Menschen an Krankheiten und Hunger. Die Zustände seien katastrophal.
Auch Amnesty berichtet von Folter, schwerer Gewalt und sexueller Ausbeutung. Außerdem würden Flüchtlinge durch Zwangsarbeit ausgebeutet oder weiterverkauft. Die Menschenrechtsorganisation hat auch Fälle dokumentiert, in denen Menschen getötet wurden, als sie versucht hatten zu flüchten. Vor allem aber knüpften Milizen und Schlepper den Geflüchteten Geld ab, indem sie sie mit Gewalt oder dem Tod bedrohten, teils Videos von Folter drehten, die dann an die Familien geschickt würden.
Nach Beobachtungen von Amnesty hat sich die Situation für Flüchtlinge seit dem Ausbruch der Kämpfe in Libyen Anfang April 2019 weiter verschlimmert. Die in Haftzentren unter katastrophalen Bedingungen festgehaltenen Menschen gerieten zwischen die Fronten und würden wegen der Kämpfe tagelang nicht mit Essen versorgt. Am 3. Juli wurden mehr als 50 Migranten und Flüchtlinge bei einem Luftangriff auf das Gefangenenlager Tajoura im Osten der libyschen Hauptstadt Tripolis getötet.
Rückführung von Flüchtlingen in der Kritik
Hilfsorganisationen machen für die verzweifelte Lage der Migranten auch die Vereinbarung zwischen den EU-Staaten und der libyschen Küstenwache verantwortlich, mit der erreicht werden soll, dass die Migranten keine europäischen Küsten mehr erreichen. Nachdem die EU-Rettungsmission "Sophia" wegen Uneinigkeiten über die Aufnahme der Menschen bis auf weiteres eingestellt wurde, sind verstärkt Schiffe der libyschen Küstenwache im Einsatz - angeblich, um Schleppern das Handwerk zu legen.
Nach UN-Angaben wurden seit Januar 2019 mehr als 2300 Menschen auf See aufgegriffen und in die Lager nach Libyen zurückgebracht. Der verstärkte Einsatz der libyschen Küstenwache habe außerdem dazu geführt, dass Menschen immer gefährlichere Routen über das Mittelmeer wählten, um nach Europa zu gelangen, so Amnesty. Dadurch steige für sie das Risiko, auf der Überfahrt zu ertrinken. Seit Anfang des Jahres sind nach Angaben der IOM im Mittelmeer mindestens 682 Migranten ums Leben gekommen, davon 426 auf der Route von Libyen nach Europa.
Forderungen an Europa
Angesichts der verheerenden Zustände in dem Bürgerkriegsland forderte der Europarat bereits im Juni die EU auf, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache einzustellen. Dieser Forderung schlossen sich Ende vergangener Woche auch der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), Filippo Grandi und IOM-Generaldirektor António Vitorino an.
Die Flüchtlinge und Migranten, die in Libyen festgehalten würden, müssten befreit und in Sicherheit gebracht werden, schreiben die Organisationen in ihrem Aufruf. Die Europäer sollten ihre eingestellten Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer wieder aufnehmen und die Migranten in sichere Häfen bringen. Zudem müsste die Möglichkeit für eine freiwillige Rückkehr von Migranten in ihre Heimatländer gewährleistet werden.
Außerdem seien dringend mehr Aufnahmeplätze unter internationaler Aufsicht für in Libyen Gestrandete nötig. Die Menschen sollten registriert werden und in sicheren Zentren des UNHCR leben dürfen. Der UNHCR unterhält bereits ein solches Zentrum in Libyen, das ursprünglich für Flüchtlinge eingerichtet worden war, die aus den Lagern geholt und in andere Länder ausgeflogen werden sollten.
Wie sich die EU positioniert
Die Bundesregierung berät laut einem Sprecher des Auswärtigen Amts mit dem UNHCR, ob und wie neue Möglichkeiten der Unterbringung in Libyen geschaffen werden können. Man sei aber "völlig illusionslos" über die Menschenrechtsverletzungen in Libyen. "Ich kann mir im Moment kein Szenario vorstellen, in dem eine Rückführung nach Libyen menschenrechtskonform wäre", sagte der Sprecher. Bundesaußenminister Heiko Maas hatte vergangene Woche eine deutsche Initiative zur Verteilung von geretteten Flüchtlingen gestartet.
Die EU-Kommission weist die Kritik der Hilfsorganisationen an den Rückführungen von Flüchtlingen zurück. Seit 2014 seien rund 338 Millionen Euro für Programme im Zusammenhang mit Migranten in Libyen gesammelt worden. Man sei dennoch "äußerst besorgt über die Verschlechterung der Situation vor Ort", versicherte Kommissionssprecherin Natasha Bertaud. Die Kommission sei allerdings nicht handlungsfähig, weil sich einzelne EU-Mitglieder nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könnten.
Vor allem Italien verweist darauf, dass die Vereinbarung mit Libyen die Zahl der nach Italien kommenden Flüchtlinge deutlich verringert habe. Tatsächlich reduzierte sich die Zahl der Überfahrten über das Mittelmeer seit Juli 2017 drastisch. Rom lässt außerdem seit rund einem Jahr keine Rettungsboote mehr in seinen Häfen anlegen. Gerne verweist die italienische Regierung darauf, dass die Zahl der Toten im ersten Halbjahr 2019 deutlich geringer ist als im ersten Halbjahr 2018.
Allerdings ist die Fahrt für diejenigen, die trotz Küstenwachen-Patrouillen in ein Boot nach Europa steigen, wesentlich riskanter geworden: Die Todesrate liegt mittlerweile bei 5,2 Prozent - im letzten Jahr waren es 3,2 Prozent. Viele Unglücke werden zudem gar nicht mehr bekannt, seitdem es weniger Rettungseinsätze gibt.