Das Leid der syrischen Zivilisten
9. August 2012Tagelang schlug sich die Familie zur syrisch-libanesischen Grenze durch. Dann, im Schutz der Nacht, wagte sie den Übergang. Doch als die Familie das rettende Terrain des Nachbarlandes erreichte, fehlten zwei ihrer Kinder. Die beiden waren im unwegsamen Gelände des Libanon-Gebirges verloren gegangen. Stundenlang suchten die Eltern nach ihnen - vergeblich. Irgendwann setzten sie die Flucht ohne ihre verschwundenen Kinder fort. Bei den eisigen Temperaturen, die im März in den Bergen herrschen, konnten sie sich ausrechnen, dass sie alleine nur wenige Stunden überleben würden. Der Krieg hatte ihnen nicht nur ihr gesamtes Hab und Gut geraubt. Auch ihre Familie hatte er zerstört.
Kinder werden Opfer
Es sind bedrückende Geschichten, die Marc André Hensel, Koordinator der Syrien-Hilfe von "World Vision Deutschland e.V.", in den auf libanesischer Seite gelegenen Lagern für syrische Flüchtlinge zu hören bekommt. Seit März, als er sich zum ersten Mal in den Lagern aufhielt, erlebt Hensel die Folgen des Krieges in zahllosen Einzelschicksalen mit. Eltern, deren Kinder verwundet wurden und keine medizinische Versorgung erhielten; die starben oder misshandelt wurden. Die Kinder leiden ganz besonders unter dem Krieg. Sie sind es, die die größten Schwierigkeiten haben, das Erlebte zu verarbeiten. Viele von ihnen hätten Albträume, berichtet Hensel im Gespräch mit der DW. Andere fühlen sich verfolgt, unsicher, schrecken nachts oft auf. "Sie wollen einfach nur weg. Sie sind verschlossen, verstummt, stehen unter Schock. Manche berichten nichts von ihren Erlebnissen. Andere erzählen alles, man merkt, sie wollen Anteilnahme haben."
Im Lager kursieren Geschichten: Regierungstruppen, so heißt es, nehmen Kinder als Geiseln, um ihre Eltern gefügig zu machen. Eine Methode, die besonders gern gegen Oppositionelle eingesetzt würde. "Andere haben mir erzählt, dass Kinder an Panzer gebunden wurden, um sozusagen einen Schutzschild zu haben, damit niemand Molotow-Cocktails auf die Panzer schmeißt oder sie beschießt." Hensel hält diese Berichte für glaubwürdig.
Wochenlange Flucht
Die Schrecken des Krieges sind groß, das berichtet auch Donatella Rovera, die sich für "Amnesty International" im Frühjahr mehrere Wochen lang inkognito in Aleppo aufgehalten hatte. Während dieser Zeit, berichtet sie, habe sie Familien getroffen, die innerhalb kurzer Zeit vier oder fünf Mal ihren Aufenthaltsort gewechselt hätten. "Jedes Mal, wenn sie in eine ruhige Zone kamen, wurde diese irgendwann ebenfalls angegriffen. So machten sie sich auf den Weg in eine andere Region. Und von dort wieder in eine andere - und so weiter." Diese im Land selbst umherirrenden Flüchtlinge stellen den größten Anteil derer, die wegen des Krieges ihren Wohnsitz verlassen haben. Auf bis zu eine Million schätzten die UN ihre Zahl.
Unter ihnen sind auch viele Verwundete, die hoffen, sich irgendwo behandeln lassen zu können. Doch der Besuch eines Arztes ist alles andere als selbstverständlich. Oft setzt er ein Netz solider, auf Vertrauen basierender Beziehungen voraus. Viele Menschen, berichtet Rovera im Gespräch mit der DW, hätten große Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Denn es habe sich herumgesprochen, dass die Regierungstruppen die dort um Hilfe Suchenden aufgreifen und ihre Identität überprüfen würden. Stellten sie fest, dass die Betreffenden im Widerstand aktiv seien, würden sie sie verhaften. "Und die Leute wissen, wenn sie verhaftet werden, werden sie leicht auch getötet." Darum suchten sie vorzugsweise Ärzte auf, die im Verborgenen arbeiteten. Aber auch dies sei riskant, denn die medizinische Behandlung von Oppositionellen wird drakonisch bestraft. "In besonders dringenden Fällen", so Rovera, "müssen sich Verwundete darum ins Ausland schmuggeln lassen."
Akuter Medikamentenmangel
Doch auch für Menschen, die nicht der Opposition angehören, wird die Situation immer schwieriger. Viele Gesundheitszentren und Krankenhäuser seien zerstört worden, berichtet Tarik Jarasevic, Sprecher der UN-Gesundheitsbehörde "WHO". Andere hätten schließen müssen, da die Energieversorgung unterbrochen sei. Aufgrund der Kämpfe könnten zudem viele Ärzte und Pfleger ihre Arbeitsplätze nicht erreichen.
Doch selbst wenn die Ärzte anwesend sind: Oft können sie ihre Patienten nicht behandeln, da ihnen die nötigen Medikamente fehlen. Rund 90 Prozent der in Syrien eingesetzten Medikamente würden lokal produziert, berichtet Jarasevic. "Wenn diese Produkte ausfallen, müssen die Syrer sie auf dem Weltmarkt kaufen. Und dort können sie sie derzeit nicht bezahlen." So seien nicht nur Menschen betroffen, die direkte Opfer der Kampfhandlungen seien. Auch Menschen mit chronischen Krankheiten, etwa Herzbeschwerden, Diabetes und Krebs, müssten auf Behandlung und Medikamente verzichten.
Lebensmittelhilfen im großen Stil
Die humanitäre Situation ist in vielerlei Hinsicht katastrophal. Eine Sprecherin des UN-Ernährungsprogramms erklärte, allein in Aleppo seien rund 46.000 Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Insgesamt hätten Mitarbeiter des Welternährungsprogramms im Juli über eine halbe Million Menschen unterstützt. Eigentlich hätten es noch mehr sein sollen, doch ließ die Sicherheitssituation weitere Hilfen nicht zu. Der Krieg lässt auch die Hilfsorganisationen zu Ohnmächtigen werden.