Das Lockerbie-Attentat
21. Dezember 2013Am 21. Dezember 1988 fiel eine Boeing 747 der US-Fluglinie Pan Am auf die schottische Kleinstadt Lockerbie. Alle 243 Passagiere und die 16 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Elf Bewohner von Lockerbie wurden von Flugzeugteilen erschlagen. In den Trümmern fand man Spuren des Plastiksprengstoffs Semtex, und obwohl sich mehrere - vor allem islamistische - Gruppen zu dem Anschlag bekannten, fiel der Verdacht schnell auf Libyen, das sich seit Jahren im Konflikt mit den USA befand.
Ein Vierteljahrhundert später, nach jahrelangen Ermittlungen durch die britischen Behörden, nach einem internationalen Prozess, nach Verurteilung und Begnadigung eines libyschen Geheimdienstoffiziers und nach Entschädigungszahlungen durch die libysche Regierung gibt es zu diesem Attentat noch immer mehr Fragen als Antworten. "Lockerbie steht für einen rätselhaften Anschlag", meint der Publizist und Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom, "bei dem man sehen kann, dass es auf dem Spielfeld des internationalen Terrorismus immer sehr viele beteiligte Parteien und viele Verschwörungstheorien gibt". Schmidt-Eenboom hat wenig Hoffnung, dass das Attentat von Lockerbie jemals ganz aufgeklärt wird.
Ein Prozess voller Widersprüche
Hans Köchler geht noch weiter. Der österreichische Philosoph war im Jahr 2000 vom UN-Generalsekretär als Beobachter zum Lockerbie-Prozess nach Den Haag geschickt worden. Er war dabei, als dort schottische Richter einen libyschen Geheimdienstler freisprachen und den anderen, Abdel Basset Ali al-Megrahi, zu lebenslanger Haft verurteilten. "Nach allem, was ich weiß und gesehen habe", sagt Köchler, "ist da ein Fehlurteil gefällt worden."
Die gesamte Beweisführung sei seltsam gewesen, erzählt der UN-Beobachter. So sei das wichtigste Beweisstück, ein Fingernagel-großes Elektronikteil, erst Monate nach Beginn der Ermittlungen aufgetaucht. Dabei soll es sich um den Rest eines Zünders gehandelt haben, den eine Schweizer Firma nach Libyen geliefert haben soll. Doch wäre dieses Bruchstück tatsächlich Teil der Bombe gewesen, sagt Köchler, dann wäre es bei der Explosion verdampft: "Schottische Physiker haben inzwischen mit Semtex Testexplosionen gemacht, da entsteht ein irrsinnig heißes Gas, da würde nichts übrig bleiben."
Die Schweizer Firma gab später zu Protokoll, dass einige Monate nach dem Anschlag die Polizei ein Muster des verdächtigen Zünders abgeholt habe. Das von den Ermittlern im Prozess vorgelegte Beweisstück stamme eindeutig aus diesem Musterzünder. Solche Ungereimtheiten habe es während des ganzen Prozesses gegeben, meint der UN-Beobachter Hans Köchler. So seien während der Verhandlung zwei Männer ständig im Raum gewesen, die nirgends in den Prozessunterlagen auftauchten: "Das waren zwei Beamte des amerikanischen FBI, die während des Gerichtsverfahrens laufend mit den Angehörigen des Ankläger-Teams geredet haben."
Gaddafis taktisches Geständnis
Der Publizist und Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom hat den Lockerbie-Prozess als politischen Prozess in Erinnerung: "Der Verlauf und der Ausgang zeigen ganz deutlich, dass da hinter den Kulissen Deals gemacht wurden, die nicht der Wahrheitsfindung dienten, sondern es beiden Seiten erlaubten, ihr politisches Gesicht zu wahren." Schmidt-Eenboom glaubt, dass die USA nach dem Anschlag die Chance witterten, den verhassten libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi endlich loszuwerden. Spätestens seit dem Bombenanschlag auf die vor allem von US-Soldaten frequentierte Berliner Diskothek "La Belle" 1986 habe der damalige US-Präsident George W. Bush nach Gründen gesucht, um das libysche Regime zu stürzen. Die Spur führte damals ziemlich eindeutig nach Libyen, das sich offensichtlich dafür rächen wollte, dass amerikanische Militärs zwei libysche Kriegsschiffe versenkt hatten. Als Antwort auf "La Belle" ließ Washington das libysche Regierungsviertel bombardieren. Eine Tochter Gaddafis kam dabei ums Leben.
Gaddafi wusste also, dass ihn die US-Regierung beseitigen wollte und suchte nach Auswegen. Als ihn die internationale Gemeinschaft auch noch für Lockerbie verantwortlich machte und schwere Sanktionen gegen Libyen verhängte, sah Gaddafi offensichtlich keine andere Möglichkeit mehr. Er bot an, zwei verdächtige Geheimdienstler an ein schottisches Gericht zu überstellen. Einzige Bedingung: die Verhandlung sollte auf neutralem Boden stattfinden. Als Gaddafi im April 1999 die beiden Geheimdienstler tatsächlich auslieferte, kippte die internationale Stimmung: der libysche Staatschef galt plötzlich nicht mehr als unberechenbar, sondern als Präsident, mit dem man reden konnte. In der Folge zeigte sich Gaddafi sogar zunehmend bereit, über Entschädigungen für die Familien der Opfer zu verhandeln, wenn der Westen im Gegenzug die Sanktionen lockern würde.
Öl statt Wahrheit
In diesem Klima fand schließlich der Prozess statt, in dem alle Seiten plötzlich bemüht waren, die Wogen zu glätten. Selbst dem einzigen Verurteilten wurde signalisiert, dass er mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen könne. Als Gaddafi dann 2002 offiziell die Verantwortung für den Anschlag übernahm und wenig später 2,5 Milliarden Dollar für die Opfer überwies, war der Revolutionsführer damit wieder zurück auf der politischen Bühne. "Es war ein taktisches Manöver", meint Schmidt-Eenboom, "um wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden und wieder Ölgeschäfte mit Großbritannien machen zu können."
Über die wirklichen Drahtzieher von Lockerbie gibt es bis heute nur Spekulationen. Der Iran wird immer genannt, sowie die Palästinensische Befreiungsfront PLO, die zu dieser Zeit in viele Anschläge verwickelt war. Doch die Hinweise sind widersprüchlich, und 25 Jahre nach Lockerbie gibt es offenbar niemand mehr, der die Wahrheit unbedingt wissen will. Die politische Landschaft hat sich verändert, die Motive von damals spielen heute keine Rolle mehr. Der einzige Verurteilte des Lockerbie-Anschlages wurde 2009 aus gesundheitlichen Gründen freigelassen, er starb 2012 an Krebs. Nur Idealisten wie der damalige Prozess-Beobachter Hans Köchler fordern, den Lockerbie-Prozess neu aufzurollen: "Das ist notwendig, um das Vertrauen in Staat und Justiz wieder herzustellen. Denn in Schottland sind viele überzeugt, dass das Verfahren nicht rechtsstaatlich war."