Das Opfer blieb behindert
8. November 2009"Das ist ein Schande, eine Schande für unser Land!“ Der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl verurteilte die Ereignisse in Lens scharf und wünschte sich seinerzeit nichts mehr, als eine rasche Aufklärung und eine konsequente Bestrafung der Täter. Der Aufschrei der Empörung und der Ruf nach harten Urteilen waren aber nicht nur in Deutschland laut. Der Vorsitzende Richter im Nivel-Prozess am Landgericht Essen, Rudolf Esders erinnert sich noch sehr genau daran, dass auch "die Aufmerksamkeit Europas und teilweise auch des nordamerikanischen Kontinents“ auf dieses Verfahren gerichtet war.
Reue und Schweigen
Andre Zawacki, Tobias Reifschläger, Frank Renger und Christopher Rauch mussten sich wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs verantworten.
Zum Prozessauftakt am 30. April entschuldigten sich drei der Angeklagten und baten Daniel Nivel und dessen Familie um Verzeihung. Tobias Reifschläger legte zudem ein Teilgeständnis ab. Lediglich Christopher Rauch machte von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Die belastenden Beweise waren in den meisten Fällen jedoch erdrückend.
Die Kraft der Bilder
Von dem brutalen Überfall in Frankreich existierte nicht nur ein Video, es waren vor allem zahlreiche Fotos, die sowohl bei der Ermittlung als auch bei der Festnahme der Täter hilfreich waren. Fast alle Angeklagten konnten darauf eindeutig identifiziert werden. Für Richter Rudolf Esders waren diese Bilder ein großer Vorteil, schließlich waren sie wesentlich "objektiver als Zeugenaussagen, die ja oft nur bruchstückweise das Geschehene wiedergeben“.
Informant verhindert Freispruch
Doch trotz dieser objektiven Zeugen, drohte aus Sicht des Gerichts ein Freispruch für den Hauptangeklagten Zawacki. Dieser war auf den vorliegenden Bildern nicht einwandfrei zu identifizieren. Ein Zeuge bzw. Informant, der ihn zwar erkannt hatte, war aus Sicherheitsgründen von der Staatsanwaltschaft und der Polizei eigentlich gesperrt. In akribischer Kleinarbeit war es dem Gericht jedoch gelungen diesen zu enttarnen und vorzuladen. Nachdem ihm Vertraulichkeit zugesichert worden war, bekräftigte er unter Eid, dass er "Andre Zawacki mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erkannt habe“. Daraufhin legte der Angeklagte ein Geständnis ab.
Kaum Gnade für die Täter
Nach insgesamt 31 Verhandlungstagen wurden am 9. November 1999 die Urteile gesprochen. Christopher Rauch musste für dreieinhalb, Frank Renger für fünf, Tobias Reifschläger für 6 und Andre Zawacki für zehn Jahre ins Gefängnis.
Daniel Nivel, der mitsamt seiner Frau und einem seiner Söhne an diesem Tag im Gericht dabei war, nahm den Richterspruch teilnahmslos zur Kenntnis. Bis heute kann sich der mittlerweile 54jährige an die Tat nicht erinnern. Neben diesen Gedächtnislücken ist Nivel teilweise gelähmt und auf einem Auge blind. Auch sein Sprachvermögen ist stark eingeschränkt.
Keine zweite Chance für das Opfer
Während Daniel Nivel bis heute an den Folgen des Überfalls leidet, sind die Täter wieder auf freiem Fuß. Bis auf Frank Renger sind sie allerdings weitestgehend untergetaucht. Der 41jährige aber hat den Weg zurück in ein geordnetes Leben geschafft, ist heute ehrenamtlicher Betreuer bei einem Essener Fußballverein und arbeitet wieder in seinem Beruf als Bäcker. Dort ist er am Anfang zwar von den Kollegen erkannt worden, Anfeindungen hat er aber nicht erlebt: "Die haben gesagt, dass ich meine Strafe abgesessen habe und jeder eine zweite Chance verdient hat“.
Zu Daniel Nivel hat er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis keinen Kontakt aufgenommen. Seine Bewährungshelferin hatte ihm davon abgeraten, "weil man halt keine alten Wunden aufreißen sollte“. Wobei ihm aber auch bewusst ist, dass diese Wunde wohl nie verheilen wird. Weder bei Daniel Nivel, noch bei ihm.
Autor: Torsten Ahles
Redaktion: Wolfgang van Kann