"Das wird eine harte Nummer"
23. August 2016Deutsche Welle: Herr Bouillon, warum war Ihnen Ihre persönliche Anwesenheit in der Aufnahmestelle Lebach so wichtig?
Klaus Bouillon: Ich war über drei Jahrzehnte Bürgermeister einer Kreisstadt. Da habe ich gelernt, dass man mitarbeiten muss, um Dinge zu bewegen. Es ist ein Unterschied, ob man am Schreibtisch im Ministerium sitzt, der 50 Kilometer vom Geschehen weg ist, oder direkt sieht, was vor Ort passiert. In Lebach hat es anfangs einfach an allem gefehlt, an Toiletten und Sanitäreinrichtungen. Ursprünglich hatte die Landesaufnahmestelle eine Kapazität von 1370 Plätzen, jetzt kamen aber allein an einem Tag aber 1000 Menschen. Da geht nichts mehr. Viele waren überfordert. In der Verwaltung fehlten oft Entscheidungsbefugnisse. Dadurch, dass ich vor Ort war, wurde vieles schneller möglich. Viele waren froh, dass der Minister für seine Entscheidungen selbst die Verantwortung trägt. Es war gut, vor Ort zu sein, weil das eine oder andere einfach immer wieder klemmte...
Zum Beispiel ?
Wir hatten irgendwann keine Transportmöglichkeiten mehr. Es waren keine Fahrzeuge da für damals 8000 Menschen. Dann habe ich die Bundeswehr überredet, dass sie kommt. Als die Flüchtlinge vor den Bussen standen und Bundeswehr-Mitarbeiter die Tüten der Menschen untersucht haben, fragte ich, warum sie das taten. In dem Tempo wären wir in fünf Jahren nicht weiter gekommen. Da sagten mir die Verantwortlichen, es gebe eine Dienstanweisung, dass in keinem Bus der Bundeswehr ungeprüftes Gepäck mit dürfe. Ich habe das dann geregelt. Genau dafür muss einer da sein, der entscheiden kann und darf.
Gab es auch Bedenken oder gar Widerstände gegen ihre zupackende Mitarbeit ?
Am Anfang habe ich gesagt, dass ich die Bundeswehr brauche. Mein Argument war: bevor die in Mali sitzen, können die doch erst mal nach Lebach kommen. Das hat sich dann auch alles eingespielt. Es gab natürlich auch Diskussionen in der Öffentlichkeit. Stellen Sie sich vor, es waren 30 bis 40 Grad und ich habe nach acht Tagen angefangen, winterfeste Hallen bauen zu lassen. Da fragten einige, ob das überhaupt nötig sei, das müsse bald aufhören, das koste alles Geld. Das hat mich nicht interessiert. Mir war damals schon klar, dass Probleme im Winter kommen würden. Aber mit unseren Vorbereitungen hatten wir später keine Probleme. Überhaupt konnten wir schnellstmöglich umorganisieren. Wir haben nach drei Wochen die Leute untersucht, eingekleidet, Anträge gestellt und in die Kommunen geschickt.
Um was mussten sie am härtesten kämpfen?
Um Ausnahmegenehmigungen bei der Flüchtlingsverteilung. Der Computer ist da ein hartes Schicksalsschwert. Der ermittelt, dass die ersten zwei Familienmitglieder nach Hamburg gehen, die anderen nach München. Da kam es vor, dass Familien auseinandergerissen werden sollten. Während eine Mutter mit zwei Kindern auf Toilette war, wurde der Vater draußen in der Hektik nach Hamburg zugewiesen und der Rest der Familie sollte nach München. Die kamen dann zu mir, weil es hieß, der Minister ist jetzt da. Dann habe ich natürlich immer wieder geholfen. Nach drei Wochen kam aber auch ich an meine Grenzen, weil man jeden Tag hundert Ausnahmen hätte machen können. Das schafft man menschlich nicht mehr. Da schläft man nicht mehr. Das war hart. Aber wo ich helfen konnte, gab es ein gutes Gefühl und viel Dankbarkeit.
Was hat sie menschlich noch vor Ort berührt ?
Die Verzweiflung vieler, die mit der ersten Flüchtlingswelle kamen. Es kamen nach vielen Alleinstehenden auch viele mit zwei, drei Kindern. Schwierig war für mich, wie die Rolle der Frau verstanden wird. Ich habe deshalb Einrichtungen für Frauen aufbauen lassen und wir haben Hebammen engagiert. Aber man wird nachdenklich, wenn man sieht, wie der eine oder andere Mann seine Frau behandelt. Oder der Mann gar nicht will, dass seine Frau untersucht wird und dass es Fälle häuslicher Gewalt gab. Das stellt sicherlich ein Problem für die Integration dar.
Inwieweit haben Sie sich manchmal allein gelassen gefühlt, so dass Zweifel am Merkel-Satz "Wir schaffen das" aufkamen ?
Ich hatte in der Phase gar keine Zeit darüber nachzudenken. Ich war ja mit meinen Helfern fast Tag und Nacht im Einsatz, um alles zu organisieren. Ich hab damals schon im Landtag gesagt, das wird eine harte Nummer.
Inwieweit haben die Erfahrungen in der Erstaufnahmeeinrichtung Lebach ihre Flüchtlingspolitik oder auch die Sichtweise auf Flüchtlinge verändert ?
Von Anfang an hat mich alles darin bestätigt, für Wohnungen zu werben. Wenn Menschen so eng zusammengepfercht wohnen, dann gibt es Aggressionen und es wird schwierig mit der Integration. Am Anfang wurde ich für das Wohnungssonderprogramm, das ich gefordert habe, ausgelacht. Wir haben Privatinvestoren Geld geboten und den Kommunen geraten, langfristige Verträge abzuschließen. Ich habe acht Monate gebraucht, bis klar war, dass das Programm gut ist. Ohne Wohnungen und ohne dezentrale Unterbringung hätten wir Probleme gehabt. So haben wir 8000 Menschen untergebracht. Zu keinem Zeitpunkt, darauf sind wir ziemlich stolz, wurde auch nur eine Sporthalle, eine Schulturnhalle oder ein öffentliches Gebäude belegt.
Was muss sich in der Flüchtlings und Integrationspolitik noch verbessern ?
Es muss schneller gehen. Vor allem bei den Sprachkursen. Bis die Leute da rein kommen, vergehen oft sechs bis neun Monate an Wartezeit. Das ist einfach zu lange. Die Menschen sitzen zu lange zuhause rum und das ist nicht gut. Darüber hinaus muss es gelingen, die Menschen schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir werden dazu im September ein Musterprojekt mit der Bundesanstalt für Arbeit starten. Im Mittelpunkt stehen Testverfahren, in denen wir die Menschen nach ihren Neigungen befragen und nach ihren Wünschen, was sie arbeiten wollen. Die Erkenntnisse erhält zum Beispiel die Handwerkskammer. So soll es schneller gehen mit allen Kursen, der Kompetenzfeststellung und mit Jobs. Das ist das A und O, da klemmt es zurzeit noch bei uns. Die anderen Dinge sind auf dem Weg.
Ein Jahr nach ihrer zupackenden Aktion- bleibt es bei den Worten der Kanzlerin: Wir schaffen das ?
Ich denke, wir haben schon viel erreicht. Es ist machbar, aber wir brauchen einen langen Atem. Wir schaffen es nur, wenn es möglichst schnell gelingt, die Menschen zu integrieren und insbesondere in die Sprachkurse zu bringen. Eine hohe Anzahl an Flüchtlingen hat keine Ausbildung, die mit unserer vergleichbar ist. Vor allem Frauen haben keine Berufsausbildung. Da müssen wir ansetzen. In der Praxis haben wir zum Beispiel festgestellt, dass Frauen die Sprachkurse besuchen und um 11 Uhr wieder nach Hause gehen, weil die sagen, sie müssten kochen. Der Mann sitzt zuhause und erwartet, dass die Frau kocht. Hier müssen wir auf eine konsequentere Durchführung der Sprachkurse achten. Ansonsten sind die Dinge auf den Weg gebracht. Die Vernetzung der Bundesländer ist im Gange bis Ende des Jahres. Jetzt geht es um die eigentliche Integration. Wir brauchen noch mehr Sprachlehrer, mehr Betreuer und mehr Kindertagesplätze. Es ist machbar, wird aber noch viele Jahre dauern.
Der CDU-Politiker Klaus Bouillon ist seit 2014 Innenminister des Saarlandes.
Die Fragen stellte Wolfgang Dick.