Ein Politthriller, der keine Leichen braucht
11. November 2015Procedure: 2012/0011(COD) - hinter diesem Code verbirgt sich der sogenannte Albrecht-Report, der eine grundlegende Reform des EU-Datenschutzes vorsieht. Jan Philipp Albrecht sitzt für die Partei Die Grünen im Europäischen Parlament und hat den Report maßgeblich bearbeitet. Die Entstehung dieses Reports hat der Regisseur David Bernet mit seiner Dokumentation "Democracy - Im Rausch der Daten" seit Januar 2012 begleitet. Weil Bernet seinem Protagonisten Albrecht außergewöhnlich nahe kommt und dabei ein Thema von höchster politischer Relevanz verfolgt, gelingt ihm eine spektakuläre Dokumentation.
Europapolitik als realer Thriller
Wenn Daten das neue Öl sind, dann ist Datenschutz der neue Umweltschutz. Es liegt deshalb nahe, dass ein Politiker der Grünen sich dem Thema widmet. Die Ausgangssituation des Films: Auf der einen Seite ein junger Politiker der Grünen mit seinem kleinen Team und einer idealistischen Vorstellung von digitaler Selbstbestimmung.
Auf der anderen Seite alle bekannten Internetkonzerne, die weiterhin uneingeschränkt Daten sammeln, auswerten und verkaufen wollen. Die Chancen für Albrecht und sein Team, ihre Ideale in ein Gesetz zu gießen, stehen schlecht. Er bekommt den Rat, sich Personenschutz zuzulegen. Reale Gefahr? Subtile Einschüchterung? Albrecht selbst weiß es nicht und verzichtet auf eine Etxraportion Muskelmasse an seiner Seite.
Stark vereinfacht läuft ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene so ab: Die Kommission bringt einen Vorschlag ein. Dieser Vorschlag geht dann an ein verantwortliches Komitee. Und innerhalb dieses Komitees gibt es den sogenannten Rapporteur, der federführend den Vorschlag der Kommission überarbeitet.
Sympathie hier, kalter Egoismus dort
"Ah - mein Lieblings-Rapporteur!" Viviane Reding, bis Mitte 2014 Kommissarin für das Ressort Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft und somit damals für den Albrecht-Report zuständig, begrüßt Jan Philipp Albrecht auf den Fluren des EU-Parlaments. Reding ist Christdemokratin. Sie meint ihre Begrüßung keineswegs ironisch. Reding schätzt Albrecht und Albrecht schätzt Reding. Das ist eine Stärke des Films. Er beleuchtet neben der Sache, dem Gesetzgebungsprozess, auch die zwischenmenschliche Beziehung der Akteure überzeugend, ohne ins Gefühlige abzudriften.
Die Beziehung zwischen Reding und Albrecht darzustellen, fällt dem Film vergleichsweise leicht, weil da zwei Menschen miteinander umgehen, die sich schätzen und kooperieren. Zündstoff dagegen verspricht die Beziehung zwischen Lobbyist und Politiker. Hier stößt Regisseur Bernet jedoch an seine Grenzen. Es war damit zu rechnen, dass kein Lobbyist vor laufender Kamera die Anliegen seines Auftraggebers ausbreiten und frei reden würde. Dennoch sind bereits jene Szenen sehr eindrücklich, in denen Albrecht von Lobbyisten abgefangen wird und wie sie das Gespräch eröffnen. Schon die Art ihres Auftretens lässt ahnen, dass alle argumentativen Geschütze wohl erst dann aufgefahren werden, wenn die Kamera aus ist.
Es ist auch spannend zu erleben, wenn vier lobbyierende Damen mit Albrechts Büroleiter am Tisch sitzen und versuchen deutlich zu machen, welche Auswirkung das Gesetz auf das Geschäftsmodell ihrer Arbeitgeber hat.
Drei Erfolgsfaktoren des Films
Das Gefeilsche um Synonyme, Nebensätze und Semikolons ist ermüdend. "Democracy" macht sehr gut deutlich, wie viel Kraft und Motivation Albrecht und sein Team aufbringen mussten, um einen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten, der kompromissfähig ist. Die Zahl 4000 füllt diese Beharrlichkeit mit Leben. 4000 Änderungsanträge erreichten die Protagonisten, in Reaktion auf ihre erste Überarbeitung des Kommissions-Textes. Das ist Änderungsantrags-Rekord. Schließlich schafft es der Politiker, dass alle Fraktionen im Parlament zustimmen.
"Democracy" liefert den Beweis, dass ein komplexer politischer Prozess anschaulich und spannend filmisch dokumentiert werden kann. Drei Bedingungen sind existenziell für das Gelingen dieses Films:
Erstens strahlen Albrecht und sein Team eine Authentizität aus, die in Berlin und Brüssel selten ist. Zweitens verschafft der Film brisante Einblicke in die Szene des Brüsseler Lobbyismus. Und letztlich ist Democracy ein avantgardistischer Film, der die Grenzen des filmisch Möglichen im Europäischen Parlament neu definiert. Denn noch nie hat ein Dokumentarfilmer den Maschinenraum der EU so intensiv ausleuchten dürfen.