Billiglohnland DDR
6. Mai 2012Die Vorwürfe gegen den Möbelhersteller Ikea, DDR-Zwangsarbeiter hätten jahrelang für den schwedischen Konzern geschuftet, brachten den Stein ins Rollen. Anfang Mai (02.05.2012) hatte der schwedische Fernsehsender SVT einen Bericht ausgestrahlt, in dem auch ehemalige DDR-Häftlinge zu Wort kamen. Demnach sollen bis zum Mauerfall 1989 in ostdeutschen Gefängnissen Ikea-Möbel hergestellt worden sein, auch von politischen Gefangenen. Zwangsarbeit in Ostdeutschland für einen westlichen Konzern. Kein Einzelfall, sondern gängige Praxis, von der auch viele deutsche Firmen profitierten. Denn in der DDR waren alle Gefangenen zur Arbeit verpflichtet.
"Die schwierigsten und schmutzigsten Arbeiten ließ man von Häftlingen machen, die Arbeiten, die niemand anders machen wollte unter schlechtesten Bedingungen", sagt Steffen Alisch vom Forschungsverbund SED-Staat. Seiner Kenntnis nach hatte es wegen der Zwangsarbeit für Ikea bereits 1984 Drohbriefe gegen den West-Konzern gegeben. Ob die Vorwürfe berechtigt sind, will Ikea nun durch eine Untersuchung von Material bei der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin herausfinden. Ein Fernsehbericht des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahr 2011 hatte darauf hingewiesen, dass für Ikea an 65 Produktionsstandorten in der DDR gearbeitet wurde, eine umfangreiche Handelsbeziehung. Der Anteil der Zwangsarbeit an der Produktion für den Möbelhersteller liegt allerdings im Dunkeln.
Zwangsarbeit war eingeplant
Bekannt ist jedoch, dass Zwangsarbeit eine feste Größe im Wirtschaftsplan der DDR war. Mitte der 1980er Jahre rechnete man mit rund 20.000 Plätzen in den Gefängnissen. Die Gefangenen erarbeiteten zwar "nur" ein Prozent der Industrieproduktion, aber "darauf wollte man nicht verzichten", sagte die Stasi-Beauftragte Thüringens, Hildigund Neubert, im Gespräch mit der DW. "Wenn zu runden Jahrestagen der DDR Amnestien ausgesprochen wurden, gab es Beschwerden aus den Ministerien. Man hatte Angst, dass ohne diese Arbeitskräfte der Wirtschaftsplan nicht erfüllt werden kann". Für ihre Arbeit erhielten die Gefangenen nur einen Hungerlohn. Die Verantwortlichkeiten einzelner westlicher Firmen sind nach Neubert jedoch schwer festzustellen. Deshalb wäre es zu begrüßen, wenn die Firmen, die von dem schmutzigen Geschäft mit den Zwangsarbeitern profitierten, durch Spenden an Stiftungen bei der Wiedergutmachung helfen würden.
Nicht geheim, aber wenig bekannt.
Dass grundsätzlich westliche Waren in der DDR produziert wurden, war durchaus üblich und gewollt. Die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten wusste aber nur zum Teil davon. Die West-Unternehmen profitierten von den niedrigen Löhnen in der DDR, für die Bundesrepublik kam hinzu, dass sie auf "Wandel durch Annäherung" setzte und somit auch politisches Interesse an den Handelsbeziehungen besaß. Für die DDR war der Export in den Westen eine Möglichkeit, sich die zunehmend benötigten Devisen zu beschaffen. Mit Schweden und Japan gab es Kooperationsverträge. "Mit Deutschland wäre so etwas unmöglich gewesen", sagt Maria Haendcke-Hoppe-Arndt, Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemalige Mitarbeiterin der Stasi-Unterlagenbehörde. Denn offiziell wollte man ja jede Verbindung mit der Bundesrepublik vermeiden.
Deshalb lief der "Austausch" über ein kompliziertes indirektes Verfahren, erläutert Haendcke-Hoppe-Arndt: "Wenn zum Beispiel das Versandhaus Quelle 10.000 Waschmaschinen haben wollte, wurde das in der Zentralen Planungskommission erfasst, ging weiter zum zuständigen Ministerium und von dort zum Außenhandelsbetrieb, der nicht produzierte, sondern ausschließlich für den Absatz zuständig war. Dort landeten im Exportplan '10.000 Waschmaschinen', ohne dass der Name 'Quelle' auftauchte."
Von Benzin bis zum Haushaltskittel
"Absprachen, wer was wie liefern sollte, gab es aber dennoch", betont die Journalistin Anne Worst, die über das Thema "Ostprodukte für den Westen" eine umfangreiche Fernsehdokumentation für den Mitteldeutschen Rundfunk gedreht hat. "Ein wichtiger Treffpunkt war die Leipziger Messe. Da gab es einen regen Verkehr von Handlungsreisenden." 6000 bundesdeutsche Firmen haben nach Worsts Recherchen mit der DDR Geschäfte gemacht. Unter ihnen Konzerne wie Quelle, Neckermann, Salamander und Beiersdorf, aber auch Unternehmen wie Varta und Underberg.
Solange die Sowjetunion dem Bruderland billiges Erdöl lieferte, exportierte die DDR reichlich Mineralölprodukte, aber auch Chemikalien, Maschinen und Textilien. Die Gewinnmarge war groß. Anne Worst hat besonders ein Beispiel aus den 1970er Jahren beeindruckt. Die DDR löste einen großen Lagerbestand auf und lieferte zehn Millionen Kittelschürzen in den Westen: "Das Versandhaus Quelle hat diese Kittel für einen Pfennigbetrag gekauft, anschließend Dreier-Pakete geschnürt und sie für 9,99 DM im Katalog angeboten." Innerhalb weniger Wochen war alles verkauft, ein Umsatz von 30 Millionen D-Mark.
Gestattete Produktion
Textilien waren zwar das bekannteste Handelsgut der DDR, keineswegs aber das häufigste, wie Anne Worst betont: "Die DDR hat unglaublich viele Lebensmittel in den Westen geliefert. Ganze Schweinehälften, Obst, Gemüse, was zum Teil auch Mangelware in der DDR war. Ganz West-Berlin hing, was frische Lebensmittel betraf, am Tropf der DDR."
Möglich wurde der Export von Waren durch die so genannte "Gestattungsproduktion". Grundmaterial, Maschinen und Pläne wurden in die DDR geliefert. Von dort kamen die fertigen oder weiter verarbeiteten Waren zurück. Ein Teil der Erzeugnisse blieb im Land und ergänzte das Angebot in den "Intershops". Hier konnten DDR-Bürger mit Westgeld zu hohen Preisen Konsumgüter kaufen. Eine weitere Maßnahme, um an Devisen zu kommen.
Geheime Geschäfte durch die Kommerzielle Koordinierung
Neben diesen hoch bürokratisch abgewickelten Geschäften gab es einen zusätzlichen Bereich von Handelsbeziehungen, der weitgehend im Dunkeln liegt. 1966 wurde im Ministerium für Außenhandel eine spezielle Abteilung für "Kommerzielle Koordinierung" eingerichtet. Ihr Leiter: Alexander Schalck-Golodkowski, ab 1975 Staatsekretär für Außenhandel. Bekannt wurde er durch einen Milliardenkredit für die DDR, den er 1983 mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß aushandelte. Seine Abteilung, kurz Koko genannt, war dafür zuständig, mit allen Mitteln Devisen zu beschaffen. Ab 1976 wurde die Abteilung ausgegliedert und entwickelte sich zu einer der mächtigsten Institutionen im Land. Wie genau die Devisenbeschaffung der Koko stattfand, ist nach Journalistin Anne Worst "ein großer Forschungsbereich für die Zukunft".