1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Dem Antisemitismus wurde auf einmal Raum gegeben"

Birgit Goertz12. März 2013

Ari Rath ist 1925 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren. Den sogenannten "Anschluss" hat er in der österreichischen Hauptstadt erlebt. Im DW-Gespräch erzählt er, wie er das Heraufziehen der NS-Diktatur erlebt hat.

https://p.dw.com/p/17uxU
Ari Rath Porträt (Foto: Paul Zsolnay / Leonhard Hilzensauer)
Ari Rath PorträtBild: Leonhard Hilzensauer

DW: Sie sind im November 1938 unter abenteuerlichen Umständen nach Palästina ausgewandert - gerade noch rechtzeitig, möchte man sagen. Wie haben Sie die Ereignisse vom März 1938 erlebt?

Ari Rath: Das erzähle ich auch in meinem Buch: Bis zum "Anschluss" – oder wie ich immer sage – bis Herr Hitler die Österreicher befreit hat. Denn sie haben ihn ja wie bekannt mit großem Jubel empfangen. Damals wollte ich nicht viel von Palästina wissen. Wir sind in einer ziemlich wohlhabenden, traditionell-jüdischen bürgerlichen Familie aufgewachsen.

Ich erinnere mich an Freitag, den 11. März: Im Radio hörte ich die Abschiedsrede von Kanzler Kurt Schuschnigg. Er sagte: "Ich verabschiede mich mit einem deutschen Wort: Gott schütze Österreich." Dann sprach im Radio Seyß-Inquart, der österreichische Ober-Nazi, der die Regierungsgeschäfte übernahm.

Mein Bruder und ich gingen am nächsten Tag unsere Großmutter besuchen. Wir wollten sehen, ob alles in Ordnung ist. Dass Hakenkreuzfahnen an den Häusern gehisst waren, hatten wir erwartet. Was uns aber schockierte war, dass schon an jenem Samstag, den 12. März, die gesamte Wiener Polizei mit Hakenkreuz-Armbinden ausgestattet war. Das muss ja vorbereitet gewesen sein.

Die Ringstraße in Wien um 1900 (Foto: Getty Images)
Die Ringstraße in Wien um 1900Bild: Getty Images

"Ari, Max, nur keine Panik"

Wir sagten uns, wenn wir jetzt von hier weg müssten, dann unbedingt in ein Land wie Palästina, von wo man uns nicht wieder vertreiben kann. Mein Vater und meine zweite Mutter waren damals in Berlin. Sie hatten dort fünf Häuser. Man konnte als Jude in Deutschland noch über sein Vermögen verfügen. Sie kamen nach ein paar Tagen zurück, und mein Vater hatte eines der ersten ernsten Gespräche mit mir gehalten. Er sagte zu mir und meinem Bruder: Bitte, Ari, Maxi, keine Panik. Er erinnerte mich daran, dass ich erst kürzlich, im Dezember 1937, in Berlin gewesen war. Die Berlin-Reise war das Geschenk zu meiner Bar Mizwa.

Daher konnte ich beurteilen, dass das, was in Österreich zwischen März und August 1938 an Enteignungen und Beraubungen geschehen ist, viel schlimmer war als in den ganzen fünf Jahren zuvor in Deutschland.

Worauf führen Sie das zurück?

Weil in Österreich wahrscheinlich noch mehr als in Deutschland jahrzehntelang ein tiefer Antisemitismus geschlummert hatte. Dem wurde auf einmal Raum gegeben.

Wir haben das als Kinder verdrängt. Der Antisemitismus war nicht offen, sondern unterschwellig. Ich ging ins Wasa-Gymnasium in der Nähe der Votivkirche im neunten Wiener Bezirk. Schon im Juli 1934 hatte Schuschnigg als Schulminister einen Erlass verkündet, dass in sämtlichen Mittelschulen und Lehrerseminaren, in denen die Schülerzahlen entsprechend hoch waren, Judenklassen eingerichtet werden sollten. Wir waren vier Jahre vor Hitler eine separate Judenklasse! Einige Lehrer waren illegale Nazis, aber trotzdem haben wir uns nicht allzu viele Sorgen gemacht.

Ari Rath als Kind 1929 (Foto: Ari Rath)
Ari Rath als Kind 1929Bild: Ari Rath

Wie sich mit dem "Anschluss" alles veränderte

Wenn man sich gestritten hat, sagten die Christen: Hau ab nach Palästina. Das war für mich eine Beleidigung. Wien war meine Heimat. Aber wir machten uns keine Gedanken, auch wenn wir an den Wänden Grafitis sahen: Juden verrecke.

Wie erging es Ihrer Familie nach dem "Anschluss"?

Anfang Mai wurde mein Vater zusammen mit 3000 jüdischen Kaufleuten verhaftet und nach Dachau verschleppt. Ende 1938 gelang es meiner zweiten Mutter, ihn herauszubringen. Vater war inzwischen in Buchenwald. Die Bedingung war, dass er auf sein Vermögen verzichtet und binnen 36 Stunden auswandert. Er hatte schon eine Schiffskarte nach Kuba gekauft.

In unserer Familie haben wir dann die deutsche Sprache verbannt. Mit meinem Vater haben wir meistens Englisch gesprochen. Wenn es meinem Vater wie in den letzten fünf Jahren seines Lebens schlecht ging, haben wir gejiddelt. Mein Bruder und ich haben vier Wochen nach unserer Ankunft in Palästina beschlossen, nur noch Hebräisch zu sprechen und zu korrespondieren. Das ist bis heute so.

Das deutsch-israelische Verhältnis

Buchcover: Ari heißt Löwe. Erinnerungen (Foto: Zsolnay Verlag)
Buchcover: Ari heißt Löwe. ErinnerungenBild: Zsolnay Verlag

Im Buch schildern Sie, dass aus Ihrer Sicht der Eichmann-Prozess 1961 ein wichtiger Wendepunkt im deutsch-israelischen Verhältnis war. Sie waren damals Journalist bei der englischsprachigen Washington Post. Wie haben Sie die Zeit persönlich erlebt?

Das war auch die erste nähere Begegnung mit Dutzenden deutschen Journalisten, die einige Monate in Jerusalem waren, um über den Eichmann-Prozess zu berichten. Mit denen ging man auch einmal in eine stadtbekannte Bar. Und irgendwie tat ich das ohne große Scheu, für mich war das wichtig. Es war eine neue Generation von Deutschen. Es gab auch eine deutsche Vertretung des Bundespresseamtes mit einem Büro in Jerusalem. Das war vier Jahre vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen.

Man kann nicht genug betonen, dass ich von Anfang an immer mehr Verständnis für den Weg aufgebracht hatte, den die Bundesrepublik Deutschland eingeschlug, um sich mit der Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen, als dem österreichischen Weg. Seit 60 Jahren gibt es in Deutschland die Bundeszentrale für politische Bildung. Sie haben mich seit Mitte der 1950er Jahre häufig eingeladen. So eine Einrichtung gibt es heute nicht in Österreich, weil soviel verdrängt wurde. Deutschland hat wenigstens versucht, sich aufrichtig mit der Nazi-Vergangenheit auseinander zu setzen.

Wie die Waldheim-Affäre die Debatte in Österreich in Gang setzte

Erst die Waldheim-Affäre 1986 hat dazu beigetragen, dass man sich endlich offen mit der NS-Zeit in Österreich auseinandergesetzt hat. Bis zu diesem Wendepunkt in Österreich hat es vierzig Jahre gebraucht. In Gang gebracht wurde dies durch die Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten, der meines Erachtens viel mehr beteiligt war, als offiziell zugegeben. Er wusste durch seine Stellung von den Deportationen, da er für die Abfertigung von Zügen zuständig war. [Anm. der Redaktion: Kurt Waldheim war SA-Mitglied und während des Krieges auf dem Balkan eingesetzt, unter anderem als Mitglied des Generalstabes. Er nahm an Besprechungen teil, erstellte Feindlageberichte und verfügte über detaillierte Kenntnisse von Kriegsverbrechen. Nach dem Krieg machte Waldheim Karriere als Diplomat und war 1972-1981 Generalsekretar der Vereinten Nationen.]

Der ehemalige österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim, Aufnahme von 2002 (Foto: Getty Images)
Der ehemalige österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim, Aufnahme von 2002Bild: Getty Images/AFP

Die FPÖ als Beleg für die nicht ausreichende Vergangenheitsbewältigung

Wie bewerten Sie den Stand der Vergangenheitsbewältigung in Österreich heute? Ist die NS-Zeit hinreichend aufgearbeitet?

Natürlich ist es nicht genug, denn es gibt die FPÖ. Der Nachfolger Jörg Haiders, dieser Herr Strache, macht kein Geheimnis um seine rassistischen Einstellungen und nach den Umfragen wäre seine Partei die drittgrößte Partei bei Wahlen.

Heinz-Christian Strache, Vorsitzender der FPÖ (Foto: REUTERS)
Heinz-Christian Strache, Vorsitzender der FPÖBild: REUTERS

Auch die Erinnerungskultur ist nicht so ausgepägt wie in Deutschland. Wobei es in Österreich zum 75. Jahrestag nach dem sogenannten "Anschluss" viele große Veranstaltungen gibt. Auch die neugestaltete Gedenkstätte in Mauthausen soll eingeweiht werden. Dazu ist der israelische Staatspräsident Schimon Peres eingeladen. Die Österreicher wollen den Jahrestag sehr betonen. Ich denke, sie werden das sehr würdig machen.

Es hat sehr lange gedauert, bis ich bereit war, die österreichische Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen, aber jetzt habe ich auch einen Koffer in Wien.

Ari Rath: Ari heißt Löwe. Erinnerungen, Fester Einband, 344 Seiten, Preis: 24,90 € ISBN 978-3-552-05585-8 Zsolnay Verlag 2012