Deme. Valencia. Intersektionalität
30. Januar 2022"Ich möchte, dass Menschen infrage stellen, wie sie sich selbst und andere wahrnehmen und beurteilen. Wie definierst du deine eigene Identität? Was sind deine Kriterien dafür - und stimmen diese Kriterien mit deinen Werten überein?"
Demetrio hat sich diese Fragen oft selbst gestellt. Die Antworten darauf haben sich über die Jahre verändert, und das ist seiner Meinung nach auch normal - denn Menschen verändern und entwickeln sich weiter. Die Herausforderung dahinter ist, dass viele es nicht wagen würden, tiefer in sich selbst hineinzusehen und daher auch keine Empathie mit Personen entwickeln, die Probleme mit ihrer Komplexität haben: "Kannst du dir vorstellen, wie es ist, ein muslimischer LGBTQ-Roma in Rumänien zu sein? Es ist in Ordnung, wenn man das nicht kann - aber dann sollte man aufhören, Menschen, von deren Situation und Identität man keine Ahnung hat, zu verurteilen."
Vorurteile und Klischees
Demetrio, auch Deme genannt, ist einer der bekanntesten LGBTQ-Aktivisten für Menschenrechte aus der internationalen Roma-Community. Er hat dadurch eine sehr weite Perspektive und erkennt jene großen Muster hinter Diskriminierung, die vielen Community-Leadern verborgen bleiben: "Ich liebe es, mit Menschen zusammen zu sein, die sich selbst als 'anders' bezeichnen und sich nicht in eine Schublade stecken lassen. Homosexuell, Roma oder Muslim zu sein, heißt nicht automatisch, dass man auch fähig ist, Empathie für andere benachteiligte Gruppen zu entwickeln."
Deme wurde bereits während seiner Schulzeit in Valencia Aktivist. Zusammen mit seinen Mitstreiter*innen gründete er die erste Roma-Jugendorganisation in Spanien. Sie wirkten direkt in den Straßen der ärmeren Viertel. Während der ersten Kampagne des Vereins kam er in Kontakt mit der internationalen Roma-Bürgerbewegung. "Zu Beginn war es seltsam, weil das keine homogene Gruppe war. Manche sprachen Romanes, manche nicht - manche waren sehr progressiv, andere konservativ. Alle waren jedoch vereint in den Zielen, die Jugend zu unterstützen und die Partizipation von Frauen in unseren Communities zu erhöhen."
Europäische Vernetzung
Das Ergebnis dieser Begegnungen war die Gründung von FERYP - dem Europäischen Jugendforum der Roma im Jahr 1996. Es war die erste europäische Jugendorganisation der Roma und sie setzte ihren Fokus bewusst auf politische Arbeit und Lobbying.
Deme fühlte, wie viele Möglichkeiten sich durch die internationale Community eröffneten. Als positive und extrovertierte Person, die er ist, baute er sehr schnell ein starkes Netzwerk auf. Heute bezeichnet er zwei Momente als die glücklichsten seines Lebens - der eine ist jener, als er in Europa ankam, der zweite eben jener seiner Zusammenkunft mit der Roma-Bewegung.
Obwohl das schon einige Jahre her ist, sollte es noch bis 2016 dauern, bis er einen ähnlich bewegenden Moment erleben durfte. Diesmal war es das erste Treffen der Roma-LGBT-Plattform in Prag.
Ausgestattet mit seiner praktischen Kompetenz und Empathie hat er bereits für viele europäische Organisationen gearbeitet, obwohl er niemals eine Universität besucht hat. Das liegt vor allem daran, dass er über Wissen und Fähigkeiten verfügt, die weit über das hinausgehen, was man an irgendeiner Schule lernen kann, erzählt er.
Identität als Cocktail
Ein Beispiel dafür ist der komplexe Umgang von Familien mit ihrer eigenen Geschichte. Demetrios Großvater war immer eine umstrittene Person innerhalb der Familie. Er hatte im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gegen die Faschisten gekämpft. Seine Großmutter ließ sich scheiden und heiratete erneut - diesmal einen Rom aus Polen, den alle "den Ungarn" nannten.
Sein Großvater war inzwischen nach Mexiko geflohen, wo er eine Frau mit nativ-amerikanischen Wurzeln traf - so wurde Demetrios Mutter geboren. Darüber hinaus sprach niemand in der Familie über ihre Roma-Identität, um weitere Differenzen zu vermeiden: "Meine Identität ist ein großer Cocktail, eine wilde Mischung. Ich fühle mich deshalb besonders verbunden mit jenem Teil meiner Persönlichkeit, der Rom ist, und mit der Roma-Bewegung."
Viele Menschen wüssten, dass Roma historisch verbunden seien mit der berühmten spanischen Tradition des Flamenco, erklärt Deme. Was viele aber nicht wüssten, sei, dass im Mittelalter Roma gefoltert und getötet wurden, wenn sie es wagten, die Sprache Romanes zu sprechen: "Roma werden in Spanien sehr exotisiert. Einerseits denken alle, wir sind arm und stehlen, andererseits denken sie, wir sind Magier und allesamt exzellente Musiker. Beides ist falsch und basiert auf Stereotypen."
Lebendige Kultur
Diese Stereotype sind so stark, dass Roma selbst manchmal denken, sie müssten sich mit diesen Klischees identifizieren. Die Mythen des Mainstream wirken wie ein Spiegel, der all jenen Roma eine falsche Identität aufzwingt, die ihre Geschichte durch den jahrhundertelangen Ausschluss aus Bildung und öffentlichem Diskurs nicht kennen können: "Viele unserer Leute haben Angst, sie müssten ihre Traditionen aufgeben, wenn sie es wagten, ein modernes Leben zu führen. Aber jetzt, in diesem Moment, erschaffen wir einen neuen Lebensstil, der Traditionen und Bürgerrechtsarbeit vereint. Wir inkludieren Feminismus und alle Arten von Diversität, weil das notwendig ist, um zu heilen und zu wachsen. Das wird unsere Kultur bereichern und auf ein neues Level heben."
Für Demetrio spielt die Jugend eine Schlüsselrolle bei dieser Transformation. Nur weil er erfahrener ist als seine jüngeren Kolleg*innen, bedeutet das für ihn nicht automatisch, dass er eine Führungsposition einnehmen muss: "Wir haben eine wirklich brillante junge Generation. Sie hat die Kraft, für Veränderungen zu kämpfen. Ich biete den jungen Menschen mein Wissen an, damit sie ihre eigenen Ideen umsetzen können. Es ist nicht meine Aufgabe, ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Für manche Dinge braucht man Erfahrung, aber für andere Dinge braucht man die Frische und die Unschuld der Jugend, die an ihre Ideen glaubt - ohne Kompromisse."
Es sei ihm jedoch ein Anliegen, den Führungspersönlichkeiten der Zukunft gewisse Werte weiterzugeben: "Dekolonial zu denken, ist sehr wichtig. Antifaschistisch zu sein, ist sehr wichtig. Sich bewusst darüber zu sein, was 'White Privilege' bedeutet und welche Konsequenzen das hat, ist sehr wichtig. Nur wer die Strukturen und die Geschichte hinter aktuellen Ereignissen kennt, ist auch fähig, diese zu analysieren und im richtigen Kontext zu behandeln."
Populismus missbraucht Emotionen
Eine Sache, die Demetrio schmerzt, ist der Erfolg rechtsextremer Parteien innerhalb benachteiligter Gruppen: "Für mich ist das vollkommen gegen unser 'Romanipen' - unsere Kultur. Wir haben den Schwächeren immer geholfen - und sie haben uns geholfen zu überleben. Wie kann es also sein, dass wir heute Konflikte zwischen im Land geborenen und migrantischen Roma haben? Genau deshalb ist Intersektionalität und der Diskurs darüber so wichtig für unsere Community und die Gesellschaft generell."
Deme ist sich bewusst, dass Rechtspopulisten gewisse Techniken verwenden, um Menschen zu überzeugen, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden: "Leute, die ständig um ihr Essen und ihr Überleben kämpfen, haben keine Zeit, über politische Diskurse nachzudenken. Rechtspopulisten liefern ihnen einen Feind, dem sie für ihre Probleme die Schuld geben können. Die Kampagnen fokussieren und missbrauchen die Gefühle dieser Personen."
Ein anderer Grund für die wachsenden Sympathien gegenüber Populisten liegt in der Geschichte verborgen, wie Demetrio ausführt: "Wir waren immer aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen. Deshalb denken viele Roma, das wäre 'gadjo' - also etwas, was man den weißen Menschen überlassen sollte."
Versteckte Geschichte sichtbar machen
Für Deme ist es daher nur logisch, die Arbeit auf politischen Ebenen anzugehen und jene zu unterstützen, die sich politisch engagieren. Derzeit sitzen drei Vertreter*innen aus der spanischen Roma-Community im Kongress des EU-Landes. Zusammen mit ihnen kämpft Demetrio für ein Gesetz, das Gleichbehandlung in Spanien sicherstellt. Er hofft, dass dies bei der Bekämpfung von Hassreden und Hassverbrechen hilft: "Menschliche Wesen sind komplex. Die Gesellschaft sollte niemandem das Gefühl geben, es gebe keinen Platz für sie in dieser Welt. Ich habe erkannt, dass ich mich glücklich schätzen kann, auf so viele Kulturen und Ressourcen zurückgreifen zu können. Mich für eine davon entscheiden zu müssen, wäre, als ob ich einen Teil meiner Seele verlieren würde. Ich habe gelernt, den Unterschied zwischen meiner Identität und den Projektionen von außen zu erkennen."
Manche Teile seiner Identität fand Demetrio erst durch den Aktivismus, als er schon einer junger Erwachsener war: "Unsere Erinnerungskultur, unser Widerstand, unsere Geschichte im Spanischen Bürgerkrieg - all das ist versteckte Geschichte. Niemand weiß, dass es eine Generalsekretärin in der anarchistischen Partei gab, die eine Romni war. Niemand weiß, dass wir den Republikanern in den Bergen halfen zu überleben. Das sind wichtige Teile unserer Geschichte, über die niemand spricht. Aber sie sind relevant für unsere Identität, unseren Stolz und unser Überleben."
Demetrio Gomez wurde 1970 in Tijuana (Mexiko) geboren und lebt in Valencia (Spanien). Er hat über 30 Jahre Erfahrung als Menschenrechtsaktivist und setzt sich für Minderheiten und eine inklusive, dekoloniale und intersektionale Perspektive ein. Er arbeitet als Experte und Trainer für den Europarat und die Europäische Kommission. Er ist aktiver Teil der europäischen LGBTQA+-Roma-Plattform und der Organisation Ververipen - Roma für Vielfalt.
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