Der Anti-Wowereit: Michael Müller
18. September 2016Es kommt selten vor, dass der Bürgermeister einer Stadt landesweit oder gar international bekannt wird. Ausnahmen sind Männer wie Boris Johnson. Der frühere Londoner Regierungschef erwarb sich als hemdsärmeliger Brexit-Befürworter einen fragwürdigen Ruf - und ist jetzt britischer Außenminister. Als "Person of the Year" des Time-Magazins ging New Yorks damaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani in die Annalen ein. Die Auszeichnung wurde ihm wegen seines umsichtigen Handelns nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zuteil.
Es muss also schon ein besonderes historisches Ereignis geben, um jenseits der eigenen Stadtgrenzen für Schlagzeilen zu sorgen. In Berlin war es Klaus Wowereit, der mit einem einzigen Satz vom lokalen "No Name" zum Tabubrecher und Politstar avancierte. "Ich bin schwul und das ist auch gut so", sagte der Sozialdemokrat wenige Tage vor seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister im Frühsommer 2001. Damit wurde er weit über die homosexuelle Community hinaus zur Ikone - nicht nur in der weltoffenen, toleranten deutschen Hauptstadt.
Ende 2014 trat der gern gesehene Talkshow-Gast und Party-Löwe Wowereit nach 13 Amtsjahren zurück. Seitdem regiert mit Michael Müller der absolute Gegenentwurf die pulsierende Metropole Berlin. Die meinungsbildende "Zeit" attestierte dem 51-Jährigen in fast schon rufschädigender Bildsprache das "Charisma einer Büroklammer". Müller wird das Etikett trotzdem als Kompliment auffassen. Es passt zu dem gebürtigen Berliner, der selbstbewusst seine kleinbürgerliche Herkunft mit der Verantwortung für eine 3,5-Millionen-Einwohner-Stadt in Einklang bringt.
Hauptstadt-Bashing lässt den Bürgermeister kalt
Einer wie Müller bleibt gelassen, wenn er permanent mit den vermeintlichen Fehlern, Macken und Peinlichkeiten Berlins konfrontiert wird. Dass eine Menge schief läuft in der Verwaltung und Planung, ärgert ihn natürlich auch. Aber er weiß genauso gut, dass Hauptstadt-Bashing in Deutschland Tradition hat. Die Berliner selbst haben dafür nur ein müdes Lächeln übrig. Entsprechend gelassen, aber auch verantwortungsbewusst geht ihr Regierender Bürgermeister damit um. Darin ähnelt Müller seinem berühmten Vorgänger Wowereit, der genau wie er aus dem Stadtteil Tempelhof stammt. Eine Gegend "ohne Akzent und Kontur", wie es in einem Müller-Portrait der "Berliner Zeitung" spöttisch heißt.
"Wir alle merken, wie sich Berlin verändert"
Dass Müller sein eigener Nachfolger als Rathaus-Chef wird, galt als ausgemacht. Nun haben ihn die Berliner für fünf weitere Jahre im Amt bestätigt. Die Ära des lange Zeit glamourös, zuletzt ausgebrannt wirkenden Wowereit ist Vergangenheit. Dessen sprichwörtliches Credo, "Berlin ist arm, aber sexy", gilt für die Stadt nur noch bedingt. Zwar sind nach wie vor Hunderttauende auf staatliche Unterstützung angewiesen, aber auch die Zahl der Besserverdiener und Reichen nimmt zu.
Das bekommen die vielen Berliner zu spüren, die wie ihr Bürgermeister aus kleinen Verhältnissen stammen. Vor allem die Mieten steigen rasant. Immobilien gehören zu den lukrativsten Spekulationsobjekten. Diesen Trend will Müller stoppen. Wegen seiner Herkunft und seines Auftretens wirkt er dabei besonders glaubwürdig. Seine Sprache ist verständlich, ohne schlicht und anbiedernd zu sein. "Wir alle merken, wie sich Berlin verändert", ist ein typischer Satz. Und in jeder Rede folgen die gleichen programmatischen Stichworte: wachsende Stadt, bezahlbarer Wohnraum, neue Arbeitsplätze, Integration von Flüchtlingen. Das sind die Themen, die in Berlin wirklich wichtig sind.
Bundeskanzlerin Merkel spielt im Wahlkampf keine Rolle
Die Bundespolitik im Allgemeinen und Kanzlerin Angela Merkel im Besonderen spielen dabei keine Rolle. Müller kommt im Wahlkampf auch gut ohne die ganz großen Namen der Partei zurecht. Mit einem Sigmar Gabriel - immerhin SPD-Bundesvorsitzender und deutscher Vizekanzler - lässt sich in Berlin nicht punkten. Das war früher ganz anders, als die Stadt noch durch eine Mauer geteilt war. Damals regierten im freien West-Berlin spätere Staatsmänner wie Willy Brandt (SPD) oder Richard von Weizsäcker (CDU). Der eine wurde 1969 Bundeskanzler, der andere 1984 Bundespräsident.
Michael Müller wird - ohne ihm zu nahe zu treten - weder das eine noch das andere. Er bleibt auf erstaunlich unspektakuläre Weise Berliner Stadtoberhaupt. "Selbstbewusst" sei er, aber auch "bescheiden", sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley bei einem gemeinsamen Wahlkampf-Auftritt im sozial schwachen Stadtteil Wedding. Barley lobte ihren Genossen auch als "wunderbaren" Bürgermeister. Ein Wort, das sonst öffentlich so gut wie nie zu hören oder zu lesen ist, wenn von Müller die Rede ist. Er wird sich darüber gefreut haben. Anzusehen war es ihm nicht.