1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Der Arzt der Migranten: "Eine echte Hölle"

Luciana Borsatti /cha
7. Juli 2017

Verbrennungen, Schusswunden, Vergewaltigungen: Viele Migranten überleben die Reise nach Europa nur schwer verwundet und misshandelt. Der Arzt Pietro Bartolo erlebt das Elend der Menschen seit Jahrzehnten.

https://p.dw.com/p/2gAkW
Lampedusa Arzt Pietro Bartolo
Bild: picture-alliance/ROPI

Deutsche Welle: In welchem Zustand befinden sich die Menschen, die auf Booten in Italien ankommen?

Pietro Bartolo: Die Migranten kommen in einem desaströsen Zustand an. Sie haben zum Teil jahrelange Reisen hinter sich und leiden an Unterkühlung und Erschöpfung, vor allem die schwangeren Frauen. Manche haben Schusswunden, andere großflächige Hautwunden. Viele haben auch Verätzungen, die entstehen, wenn das Benzin des Bootes sich mit dem salzigen Meerwasser mischt und in das Innere des Bootes läuft. Das passiert sehr oft, wenn die Benzinkanister umkippen oder ein Loch haben und sich dann das Benzin mit Wasser vermischt, dass in die Boote läuft, die oft nicht richtig dicht sind. Vor allem Frauen sind davon betroffen.

Warum die Frauen?

Die Männer setzen sich an den Rand der Boote, um die Frauen zu schützen. Die Frauen sitzen dann in der Mitte auf dem Boden, wo die Benzin-Wasser Mischung als erstes einläuft. Ihre Kleidung saugt sich voll, und die Verätzungen können sogar tödlich sein. Die Wundheilung dauert Jahre, die Narben bleiben ein Leben lang.

Mit was für Verletzungen haben Sie es sonst zu tun?

Manche Migranten haben Schusswunden: Die Schleuser zwingen die Migranten in Libyen auf die Holz- und Schlauchboote. Wenn sie sich weigern, dann schießen die Schlepper. Dann legen die Boote ab und die Insassen sterben womöglich ein paar Stunden später auf See. Sie töten sogar Menschen, um die Anderen zum Einsteigen zu zwingen.

Verleihung des deutsch-französischen Menschenrechtspreis Pietro Bartolo
Für seinen Einsatz erhielt Pietro Bartolo (Mitte) den deutsch-französischen MenschenrechtspreisBild: picture alliance / Maurizio Gambarini/dpa

Was berichten Ihnen die Migranten über ihre Flucht?

Es sind oft Geschichten von Vergewaltigung. Manche Migranten sprechen offen darüber, sie überwinden ihre Scham. Es sind vor allem Schwarze, die in Libyen vergewaltigt werden. In den Augen der Libyer sind Schwarze keine Menschen: sie werden schlechter behandelt und vor allem die Frauen sind in deren Sicht noch weniger wert.

Die meisten Frauen, die ankommen, sind vergewaltigt worden, selbst die ganz jungen. Deshalb kommen so viele Frauen mit Babys oder kleinen Kindern an - ihre weiten Reisen aus Nigeria und anderen Ländern haben zum Teil Jahre gedauert.

Sie berichten von unvorstellbaren Grausamkeiten in Libyen, für sie ist es eine echte Hölle. Viele sterben schon in der Wüste, viele werden als Sklaven herumgereicht und müssen so  ihre Schulden abzahlen, die sie für die Reise aufgenommen haben. Wenn sie in Europa ankommen, geht das weiter, sie müssen Tag und Nacht durcharbeiten.

Wie nehmen Sie diese Menschen in Empfang, nachdem sie ein solches Elend erlitten haben?

Diese armen Menschen haben so viel durchgemacht, nicht nur durch die Fahrt über das Mittelmeer. Sie haben dem Tod mehr als einmal gegenüber gestanden. Wenn sie in Europa ankommen, dann sind sie weiterer Gewalt ausgesetzt.

Libyen Migranten Flüchtlinge Boot
In Italien sind seit Januar 2017 bereits über 82 000 Migranten angekommen - viele von ihnen verwundetBild: picture-alliance/dpa/E.Morenatti

Deshalb möchten wir ihnen direkt klar machen, dass sie in einem sicheren Land angekommen sind und dass ihnen kein Leid widerfahren soll. Wenn die Menschen am Favaloro Pier (Lampedusa, Ankunftsort vieler Flüchtlingsboote; Anm. d Red.) ankommen, dann empfangen meine Kollegen und ich sie mit Wärme, mit einem Lächeln, heißem Tee, Wärmedecken und Empathie. Dann verstehen sie, dass sie in Sicherheit angekommen sind, nachdem sie so viel gelitten haben.

Europa sollte anfangen, Migranten als Menschen zu betrachten und nicht nur über die Zahlen zu sprechen, als ob es eine Invasion wäre.

Gab es Fälle, die Sie besonders berührt haben?

Ich habe Jungen gesehen, deren Unterbeine komplett gehäutet waren. Sie waren von Libyern mit Ketten gefesselt und kopfüber aufgehangen worden. Dadurch wurde ihre Haut abgezogen. Die Täter haben das gemacht, um Geld zu erpressen, manchmal während sie am Telefon mit der Familie sprachen. Doch sie haben sich auch an Jungen vergangen, bei deren Familien gar nichts zu holen war.

Libyen spanische Patrouille überwacht Flüchlingsboot für eine Rettungsaktion
Auf den seeuntüchtigen Booten herrscht auch VerbrennungsgefahrBild: picture-alliance/AA/M. Drinkwater

Der jüngste Fall war der eines 13-jährigen Jungens, dessen Haut an den Beinen fehlte. Ich untersuchte ihn; er hatte zwei Monate in einem Gefängnis verbracht und kaum gegessen. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen, genau wie die anderen, die mit ihm ankamen. In einem solchen Fall wächst die Haut nie wieder nach. Es dauert Jahre, bis sich daraus harte Narben bilden. Man kann sich nicht bewegen, und leidet ständig unter großen Schmerzen. Trotzdem hat er sich nicht einmal beklagt. Nie höre ich die Menschen klagen, sie stehen so vieles durch. Der Junge ist jetzt in einem Krankenhaus in Palermo. Möglicherweise wird er eine Operation haben, wer weiß. Dann werden wir sehen, wo er hingehen wird.
 

Pietro Bartolo behandelt seit über 20 Jahren ankommende Flüchtlinge auf der Mittelmeerinsel Lampedusa. Im Dezember 2016 wurde er mit dem Deutsch-Französischen Preis für Menschenrechte ausgezeichnet, kürzlich wurde er zum UNICEF-Botschafter von Italien ernannt.

Das Gespräch führte Luciana Borsatti.