Der Bundestag gedenkt der NS-Opfer
27. Januar 2021"Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche." Charlotte Knobloch ist 88 Jahre alt. Schon oft hat die Münchnerin bei Gedenkstunden des Bundestages als Ehrengast auf der Besuchertribüne gesessen. Nun steht sie selbst am Mikrofon und hält die Rede zum Gedenken an die vielen Millionen NS-Opfer.
Knobloch nennt sich mit ihren ersten Worten "stolze Deutsche", gegen Ende ihrer Rede erneut. Da erheben sich die Abgeordneten zu ihren Ehren und applaudieren. Minutenlang. Auch Vertreter der rechtspopulistischen AfD klatschen.
Zum 25. Mal gedenkt der Bundestag am 27. Januar der NS-Opfer. Es ist der Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Sowjetunion. Als ob das Land, als ob sein Parlament fünf Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Kraft dazu gefunden hätte. Anfang 1996 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog diesen Gedenktag proklamiert. Gut drei Wochen später war er der erste Redner. Vor ihm im Parlament saßen sogar noch einige Abgeordnete, die als junge Männer der NSDAP angehörten oder in der Wehrmacht kämpften.
Rührung und Mahnung
Es ist, Jahr für Jahr, eine ganz eigene Stunde im Reichstag. Bewegende Reden von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, erschütternde Schilderungen, die verstummen lassen. Es sind Mahnungen vor Judenhass und Rassismus. Vielleicht helfen die musikalischen Einlagen bei den Feiern, die Spannungen der Reden und des Rahmens auszuhalten. In diesem Jahr sprechen – erstmals – zwei Frauen gemeinsam. Zwei Frauen, die für unterschiedliche Generationen und Schicksale, fast verschiedene Jahrhunderte stehen.
Knobloch, die Grande Dame der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, erzählt vom Druck der 1930er Jahre und den Gräueln bis 1945. Das junge Mädchen überlebte die Verfolgung und das Morden bei einer Bauernfamilie versteckt unter falschem Namen: Lotte Hummel. Als sie den Moment erzählt, an dem sie ein letztes Mal ihre Großmutter sieht, die später im KZ Theresienstadt stirbt, kämpft sie mit den Tränen. Ein großes deutsches Leben, zerrissen wie die deutsche Geschichte.
Das Trauma bleibt
Später spricht Marina Weisband. Die heute 33-jährige Publizistin kam 1994 mit ihrer Familie aus Kiew nach Deutschland. "Ich hatte Angst vor einem unbekannten Land", sagt sie. Sie reiste mit einer jüdischen Familie ohne gelebte jüdische Tradition in dieses fremde Land Deutschland. Und schildert nun ihre positiven Erfahrungen, aber auch Ängste und Sorgen. Sie habe, sagt Weisband, "nie eine Expertin für Antisemitismus sein" wollen, nun halte sie Vorträge dazu und werde bei Anschlägen um Stellungnahme gebeten. "Das Trauma, das über Generationen an uns vererbt wurde", sagt sie.
Knobloch und Weisband halten sehr persönliche Reden. Aber sie werden auch politisch, so wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Einleitung. Der CDU-Politiker beklagt "hemmungslosen und gewaltbereiten" Rechtsextremismus und "dreiste Umdeutung, ja sogar Leugnung der Geschichte".
Nicht immer wird geklatscht
Knobloch wendet sich ausdrücklich an die Mitglieder der AfD-Fraktion: "Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen. Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren." Da klatschen die anderen Fraktionen. So wie sie Marina Weisband applaudieren, als sie die "Debatte über einen vermeintlichen Schlussstrich" unter die Erinnerung an die Gräuel kritisiert. Nur als Weisband vor neuen Verschwörungserzählungen warnt und beklagt, "jetzt gerade" würden "rechtsextreme Strukturen in Bundeswehr und Polizei nicht konsequent aufgedeckt", da klatscht gar niemand.
Die 88-jährige Knobloch und die 33-jährige Weisband: Es wirkt wie eine Stab-Übergabe der Generationen. In dieser Stunde verdichten sie die Befindlichkeit vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland, die zweifeln, ob sie bleiben oder gehen sollen.
Ein einmaliger Moment
Dabei wird das Gedenken des deutschen Parlaments nicht nur wegen der Reden zu einer großen Stunde. Als Ausklang gibt es einen sehr konkreten und doch sehr symbolischen Moment, einmalig in der gut 70-jährigen Geschichte des Bundestages und des Landes. Zeichenhaft und wie Paten übernehmen die Repräsentanten des Landes Verantwortung für das Judentum in Deutschland. Das Judentum, das in diesem Jahr in Deutschland 1700 Jahre alt wird. Ab Februar steht zum Jubiläum ein vielseitiges Festjahr an.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsident Schäuble, Bundesratspräsident Reiner Haselhoff, Kanzlerin Angela Merkel, und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, ziehen aus dem Plenum in den wenige Schritte entfernten "Andachtsraum". Dort erwarten - unter Beachtung der Corona-Verhaltensvorschriften - zwei Rabbiner die Gäste, während im Parlament die Abgeordneten auf großen Bildschirmen das Ganze verfolgen.
Rabbiner Elias Dray aus dem östlich von Nürnberg gelegenen Amberg und sein Kollege Shaul Nekrich aus Kassel erwarten die hohe Politik mit einer Thorarolle. Es ist die vermutlich älteste jüdische Schriftrolle, die es in Deutschland noch gibt - oder wieder gibt. Sie entstand 1792 im Örtchen Sulzbach bei Amberg, überstand dort 30 Jahre später arg beschädigt einen Stadtbrand und in Amberg 140 Jahre später die Brandschatzung der Nazis. Dann geriet die papierne Rolle mit den ersten fünf Büchern der Bibel, fein gemalt in hebräischer Schrift, in Vergessenheit. Bis zur zufälligen Wiederentdeckung durch Rabbiner Dray im Jahr 2015.
Die Politiker als Paten
Sechs Jahre später, im Januar 2021, ist das kostbare Schriftstück kundig restauriert und dort, wo Brandschäden waren, von frommer Hand neu geschrieben. Die letzten Buchstaben werden nun im Andachtsraum des Bundestages gesetzt. Sorgfältig, und bei jedem Schriftzeichen sitzt ein anderer neben dem fein schreibenden Rabbiner und hält seine Hand am hölzernen Griff der Schriftrolle: Harbarth und Haselhoff, Schäuble, Merkel und Steinmeier, Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, auch Knobloch und Weisband. Nichts darf schiefgehen bei dieser Tradition. Und dann stimmt ein Rabbiner einen Gesang an. Das Werk ist vollbracht, die Thorarolle wieder geweiht. Im Juni soll sie feierlich Einzug halten in die Amberger Synagoge.
Schäuble nannte die Thorarolle in der Gedenkstunde ein "Zeichen dafür, dass 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland nicht zu Ende sind". Und mit dem Paten-Amt verpflichteten sich die Politiker, "jüdisches Leben in Deutschland vor Angriffen zu schützen" und die Erinnerung an das Verbrechen der Shoa weiterzugeben.
Er habe, sagt Rabbiner Dray später der Deutschen Welle, "sehr großes Vertrauen" in diese Repräsentanten. Sie hätten immer wieder gezeigt, "dass ihnen jüdisches Leben wichtig ist".