Der erste Völkermord im 20. Jahrhundert
11. Januar 2004Der zunehmende Verlust ihres Landes an deutsche Siedler, die Parzellierung ihres Gebietes durch den Eisenbahnbau, die Dezimierung ihrer Rinderherden, nicht geahndete Vergewaltigungen ihrer Frauen, ihre wachsende Verschuldung durch Wucher der weißen Händler und die fortschreitende Beschneidung ihrer Rechte - für das Hirtenvolk der Hereros gibt es im Januar 1904 viele Gründe, sich gegen die deutsche Kolonialmacht zum Aufstand zu erheben.
Am Morgen des 12. Januar kommt es in Okahandja nahe Windhuk zu einer Schießerei zwischen Hereros und Deutschen. Unklar ist bis heute, was die Schießerei auslöste. In den nächsten Tagen töten Hereros 110 deutsche Siedler und 13 deutsche Soldaten. Farmen werden überfallen, Handelsgüter und Rinder geraubt. Die Aufständischen zerstören Eisenbahnen, Brücken und Häuser der Deutschen.
Der Schlag der Rebellen trifft die Kolonialherren unter ihrem Gouverneur General Theodor Leutwein völlig unvorbereitet. Die 500 Soldaten und 270 Polizisten der "Deutschen Schutztruppe" sind zunächst machtlos. Der Aufstand weitet sich schnell auf die gesamte Kolonie aus. Die Schutztruppe versucht ein halbes Jahr lang erfolglos, der Hereros in einem Buschkrieg Herr zu werden.
Von Trotha greift ein
In den Zeitungen des Deutschen Reiches überschlagen sich die Meldungen über die gefährdeten Landsleute im fernen Afrika. Um den Aufstand niederzuschlagen entsendet die Reichsregierung in Berlin 14.000 Soldaten als Verstärkung in die Kolonie und mit ihnen einen neuen Oberbefehlshaber für die Schutztruppe: Generalleutnant Lothar von Trotha, der sich bereits in anderen Konflikten den Ruf eines erbarmungslosen Rassisten erworben hat.
Für Larissa Förster, Namibia-Expertin des Museums für Völkerkunde in Köln nimmt damit der Konflikt eine fatale Wendung. "Man kann sagen, dass das eine Brutalisierung bedeutet hat." Mit von Trothas Eingreifen habe es so gut wie keine Aussicht auf eine Verhandlungsoption gegeben.
Entscheidungsschlacht
Da das Jahr 1904 ein besonderes trockenes Jahr ist, ziehen sich die mittlerweile kriegsmüden Hereros mit ihren Viehherden auf noch frisches Weideland im Landesinneren zurück. Doch die "Deutsche Schutztruppe" unter von Trotha spürt die Hereros auf und kesselt sie am Fuß des Waterbergs ein. Am 12. August kommt es zur Entscheidungsschlacht mit großen Verlusten auf beiden Seiten.
Die überlebenden Hereros können durch eine Lücke in der deutschen Linie in die Wüste Omaheke fliehen. Eine tödliche Falle. Denn da sowohl die wenigen Wasserstellen, als auch die Grenze der Wüste von deutschen Truppen besetzt werden, müssen Tausende verdursten. Nur wenige schaffen es, die Wüste zu durchqueren.
Als die ersten Hereros sich ergeben und zurückkehren wollen, erteilt General von Trotha am 2. Oktober den Befehl, jeden Herero zu erschießen, egal ob Mann oder Frau, mit Waffe oder wehrlos. Er ist besessen davon, das in seinen Augen minderwertige Volk komplett auszulöschen. Der Deutsche Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler von Bülow verurteilen diese Entscheidung, aber zunächst erfolgt keine weitere Reaktion. Erst am 11. Dezember kommt der Befehl aus Berlin, alle Herero festzunehmen und in Konzentrationslager zu sperren.
Es folgt eine erbarmungslose Jagd auf Schwarze. In den Lagern müssen die Herero Zwangsarbeit leisten. Viele von ihnen sterben an Mangelernährung, Seuchen, Schwäche und Krankheiten. Als 1908 sämtliche Lager aufgelöst werden, ist die Herero-Nation praktisch vernichtet: sozial, kulturell, wirtschaftlich, psychologisch und selbst physisch. Über 80 Prozent des Volkes ist umgekommen.
Völkermord
Die meisten Historiker und Völkerkundler sehen in der Niederschlagung des Herero-Aufstandes den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, so auch Larissa Förster. "Es war eindeutig der Vernichtungsbefehl gegen Leute, die einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören, weil sie dieser ethnischen Gruppe angehören", sagt sie.
Bis heute haben sich die Hereros nicht von der Verfolgung erholt. Etwa 100.000 leben in Namibia, viele von ihnen arbeiten auf den Farmen der Weißen. Im September 2001 - also 93 Jahre nach dem Ende des Konflikts - reichten die Hereros vor einem US-Gericht Klage gegen die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ein. Vier Milliarden Dollar an Reparationszahlungen verlangt das Volk von den Deutschen. Verklagt wird auch die Deutsche Bank, die von den Erträgen der Zwangsarbeiter profitiert hat. Die Klage lautet auf Verletzung des internationalen Rechts, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid, Sklaverei und Zwangsarbeit.
Aussichtlose Klage
Die Klage der Hereros wurde von den amerikanischen Richtern in erster Instanz abgelehnt. Fraglich wäre ohnehin, ob sie überhaupt eine Chance hätte. Denn die Hereros erfahren kaum Unterstützung. Noch nicht einmal von der namibischen Regierung. Denn die führenden Herero zählen zur politischen Opposition. Die Regierung besteht im Wesentlichen aus Mitgliedern des Ovambo-Volkes.
Auf eine freiwillige Reparationszahlung durch die Bundesrepublik Deutschland dürften die Herero ebenso vergeblich warten. Aber ein kleiner Trost bleibt, denn was finanzielle Fragen angeht, so ist die Bundesrepublik dennoch sehr großzügig gegenüber Namibia: Mehr als eine halbe Milliarde Euro flossen bisher als Entwicklungshilfe in die ehemalige Kolonie. Mehr als in jedes andere Land der Dritten Welt. Damit ist Deutschland gleichzeitig größter Geldgeber Namibias.