Der Fall Gurlitt - eine Chronologie
28. Februar 2022Die Sammlung des Kunsthändlers Cornelius Gurlitt zählt zu den spektakulärsten Kunstfunden seit dem Zweiten Weltkrieg. Gurlitt stand im Verdacht, NS-bedingt entzogenes Kulturgut in seiner Wohnung in München sowie seinem Haus in Salzburg aufbewahrt zu haben. Sein Vater, Hildebrand Gurlitt, war einer von vier Nazi-Kunsthändlern gewesen, die als "Entartete Kunst" bezeichnete Werke gegen Devisen verkaufen sollten - ins In- wie ins Ausland. War er und in der Folge auch sein Sohn Cornelius Nutznießer von Verfolgung und Enteignung jüdischer Sammler gewesen? Für die Ermittler lag diese Schlussfolgerung nahe.
Der Fall Gurlitt erzählt viel darüber, wie die Bundesregierung jahrzehntelang versäumt hatte, die NS-Raubkunst aufzuarbeiten. An Cornelius Gurlitt sollte ein Exempel statuiert werden. Doch am Ende wurden nur vierzehn der insgesamt mehr als 1500 beschlagnahmten Kunstwerke als NS-Raubkunst identifiziert und mit jahrelanger Verzögerung restituiert.
Eine Chronologie der Ereignisse
22. September 2010: Bei einer Zugfahrt fällt der Rentner Cornelius Gurlitt dem Zoll an der Schweizer Grenze auf. Die Leibesvisitation bringt 9500 Euro zum Vorschein. Gurlitt gibt an, das Geld stamme von Kunstverkäufen beim Berner Kunsthändler Eberhard W. Kornfeld. Die Beamten werden hellhörig. Liegt ein Steuerdelikt vor?
28. Februar 2012: Gurlitts Wohnung in München-Schwabing wird durchsucht. Die Fahnder entdecken 1280 wertvolle Kunstwerke und beschlagnahmen sie. Ist ein mögliches Steuerstrafverfahren Grund genug, eine Kunstsammlung zu konfiszieren und über Jahre nicht zurückzugeben? Legitimiert wird die Beschlagnahmung durch den Verdacht, dass sich in der Sammlung Gurlitt Raubkunst befindet. In der Wohnung in Schwabing befindet sich nach Recherchen des "Focus" auch eine Kaufliste von Hildebrand Gurlitt aus der NS-Zeit. Der Fund in München bleibt vorerst geheim.
"Focus" macht den Fall Gurlitt öffentlich
3. November 2013: Das deutsche Nachrichtenmagazin "Focus" bringt den Fall an die Öffentlichkeit und schreibt von einem "Nazi-Schatz in Milliardenhöhe". Danach greift die Presse weltweit die Geschichte auf.
11. November 2013: Eine "Taskforce Schwabinger Kunstfund" unter der Leitung der Verwaltungsjuristin Ingeborg Berggreen-Merkel soll die Herkunft der Bilder erforschen und klären, ob sich unter den sichergestellten Bildern Raubkunst befindet.
Bereits einen Tag später werden 25 Werke auf lostart.de veröffentlicht. Über die Plattform sollen Werke von ungeklärter Provenienz zu den Nachfahren einstiger Besitzer finden.
19. November 2013: Die Behörden teilen mit, dass Gurlitt Hunderte Bilder zurückbekommen soll, die ihm zweifelsfrei gehören.
23. Dezember 2013: Es wird bekannt, dass Gurlitt unter vorläufige Betreuung des Münchner Rechtsanwalts Christoph Edel gestellt wird.
28. Januar 2014: Die Taskforce verkündet, dass nach einer ersten Sichtung 458 Werke aus Gurlitts Sammlung unter Raubkunstverdacht stehen.
Gurlitt erklärt sich zu Restitution bereit
10. Februar 2014: 60 weitere wertvolle Bilder werden in Gurlitts Haus in Salzburg gefunden - darunter Gemälde von Picasso, Renoir und Monet. Später stellt sich heraus, dass es sich sogar um insgesamt 238 Werke handelt.
7. April 2014: Gurlitts Anwälte unterzeichnen einen Vertrag mit der Bundesregierung, in dem der Kunsthändler sich bereiterklärt, Bilder, bei denen es sich um Nazi-Raubkunst handelt, freiwillig zurückzugeben.
9. April 2014: Die Staatsanwaltschaft Augsburg gibt die beschlagnahmten Bilder nach mehr als zwei Jahren wieder frei. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens hätten sich neue Erkenntnisse ergeben, teilte die Behörde mit. Die rechtliche Situation sei neu bewertet worden. Nach mehr als zwei Jahren soll Cornelius Gurlitt seine Bilder zurückerhalten.
6. Mai 2014: Cornelius Gurlitt stirbt im Alter von 81 Jahren in seiner Wohnung in München, ohne seine Kunstsammlung noch einmal gesehen zu haben.
7. Mai 2014: Laut Testament hat Gurlitt seine Sammlung dem Kunstmuseum Bern in der Schweiz vermacht.
19. Mai 2014: Gurlitt wird in Düsseldorf im Grab seiner Eltern beigesetzt.
5. September 2014: Im Nachlass von Gurlitt ist nach Angaben der Berliner Taskforce ein weiteres wertvolles Bild gefunden worden: Das Bild "Abendliche Landschaft" von Claude Monet.
Gurlitt vererbt Sammlung dem Berner Kunstmuseum
17. November 2014: Ein von Mitgliedern der Gurlitt-Familie in Auftrag gegebenes Gutachten des Psychiaters und Juristen Helmut Hausner wird bekannt, demzufolge Cornelius Gurlitt an "paranoiden Wahnideen" gelitten habe.
21. November 2014: Die Cousine von Cornelius Gurlitt, Uta Werner, erhebt Anspruch auf das Erbe des Kunstsammlers.
24. November 2014: Das Kunstmuseum Bern bestätigt offiziell, dass es das Erbe annimmt.
In Berlin unterschreiben das Museum, die deutsche Bundesregierung und der Freistaat Bayern eine Vereinbarung. Diese sieht vor, dass Bern nur Werke übernimmt, bei denen es sich nachweislich nicht um Raubkunst handelt. Uta Werner und weitere Gurlitt-Verwandte fechten das Testament an. Ein langwieriger Rechtsstreit beginnt. Die Frage, "War Cornelius Gurlitt testierfähig?", wird mit Gutachten und Gegengutachten gerichtlich verhandelt, zunächst am Amtsgericht, dann vor dem Oberlandesgericht München.
Restitution: Matisse und Liebermann
12. Mai 2015: Das Amtsgericht München entscheidet, die Gemälde "Sitzende Frau" von Henri Matisse und "Zwei Gemälde am Strand" von Max Liebermann aus der Sammlung sollen an die Erben der Alteigentümer restituiert werden.
15. Dezember 2016: Das Oberlandesgericht München kommuniziert seinen Entscheid: Gurlitt war testierfähig. Damit kann das Kunstmuseum Bern das Erbe antreten.
2. November 2017: Das Kunstmuseum Bern und die Bundeskunsthalle Bonn eröffnen die Doppelausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt. 'Entartete Kunst' beschlagnahmt und verkauft". Erstmals werden die Werke einer breiten Öffentlichkeit gezeigt.
13. Januar 2021: Eine Zeichnung von Carl Spitzweg wird als vermutlich letztes Werk aus der Sammlung Gurlitt restituiert. Insgesamt wurden 14 Werke, die im Zusammenhang mit dem Kunstfund im Rahmen der Recherchen als NS-verfolgungsbedingt entzogen identifiziert wurden, im Januar zurückgegeben.
10. Dezember 2021: Nach mehrjähriger Prüfung trennt sich das Kunstmuseum Bern von 38 Werken der Sammlung. Neun der Gemälde seien eindeutig von den Nazis gestohlen worden, teilte das Schweizer Museum mit. Diese seien bereits durch Deutschland an ihre rechtmäßigen Besitzer übergeben worden. Bei den anderen gebe es Hinweise, dass es sich womöglich um Raubkunst handele.
25. Februar 2022: Der ehemalige Betreuer Gurlitts, Christoph Edel, erhebt im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur Vorwürfe gegen "Staatsanwaltschaft, Politik, Medien", die sich weder für "Gurlitts Sicht der Dinge" noch für "seine Person" interessiert hätten. Er kritisiert rückblickend: "Es war ein rücksichtsloser Umgang mit einem alten Menschen, dem ja rechtlich nichts vorzuwerfen war und auch ob ihm moralisch etwas vorzuwerfen war, ist fraglich, wenn man an seine gesundheitliche und familiäre Situation denkt."
Fazit: Die Wahrnehmung des Falls Gurlitt hat sich über die Jahre stets verändert. Festzuhalten ist, dass er dafür gesorgt hat, dass sich deutsche Museen vermehrt ihrer Vergangenheit stellen und ihre Sammlungsbestände kritisch auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut durchleuchten. Doch wurde auch klar, dass die Staatsanwaltschaft vorschnell die Werke aus dem Gurlitt-Besitz einkassierte. Und die Bezeichnung "Nazischatz", wie der Fund zunächst genannt wurde, war eine starke Übertreibung.