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Politik

Der Fischer, die Demonstranten und der Imam

29. Mai 2017

Nach kurzer Flucht ist Nasser Zefzafi, der Führer einer Protestbewegung im Norden Marokkos, verhaftet worden. Er fordert lautstark politische und soziale Reformen - und tritt im Zweifel auch Imamen entgegen.

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Nasser Zefzafi, Anführer Protestbewegung
Nasser Zefzafi, der Führer der Protestbewegung von Al-HoceimaBild: Reuters/Y. Boudlal

Die Erläuterungen des Imams wollten sie so nicht hinnehmen. Also unterbrachen Nasser Zefzafi und seine Anhänger am Freitag die Predigt in der Moschee "Mohammed V." und stellten den Religionsgelehrten zur Rede. Dieser hatte soeben über das Verbot der Hetze im Islam gesprochen. Für den Geschmack Zefzafis und seiner Anhänger hatte er das in eindeutig politischer Absicht getan, mit dem Ziel, die immer größer werdende Protestbewegung in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren.

Da in Marokko die Störung eines Gottesdienstes strafbar ist, tauchten umgehend Polizisten vor dem Haus Zefzafis auf, um ihn zu verhaften. Dabei kam es zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und den Anhängers des Protestführers. Zefzafi selbst tauchte unter. Anfang dieser Woche wurde er verhaftet.

Tod eines Fischhändlers

Die Proteste in Al-Hoceima entzündeten sich im Oktober vergangenen Jahres. Damals war ein Fischhändler, Mohsen Fikri, von der Polizei beschuldigten worden, er habe Ware nicht ordnungsgemäß verkauft. Die Fische warfen sie in einen Müllwagen. Um seine Ware zu retten, kletterte Fikri in den Container und wurde dort von der Zerkleinerungsmechanik des Wagens getötet. Seitdem reißen die Proteste in Al-Hoceima nicht ab. Vergangenen Sonntag waren dort den dritten Abend in Folge Hunderte überwiegend junge Menschen protestierend durch die Straßen gezogen. Zuvor hatte es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gegeben. Einzelne Proteste wurden auch aus anderen Städten der Region gemeldet.
"Eine der wesentlichen Forderungen der Demonstranten ist, dass der Tod von Fikri restlos aufgeklärt wird", sagt Ali Anouzla, Journalist des Internetmagazin "Lakum" ("Für Euch"). Die Umstände des Todes, berichtet auch das marokkanische Internetportal "Tel Quel", seien nach Auffassung vieler Demonstranten bisher nicht hinreichend aufgeklärt. Die Menschen forderten eine lückenlose Aufklärung und schnelle Bekanntgabe der Ergebnisse, so Tel Quel. Viele Demonstranten vermuteten, dass die Polizisten seinerzeit ein Bestechungsgeld vom Fischhändler Fikri gefordert hätten, das dieser nicht bezahlen wollte oder konnte.

Demonstration gegen Behördenwillkür
Nach dem Tod Mohsen Fikris: Proteste gegen StaatswillkürBild: Getty Images/AFP/F. Senna

Probleme einer entlegenen Region

"Hirak" (Bewegung") nennt sich die Protestinitiative in Al-Hoceima. Seit geraumer Zeit hat sie ihre Forderungen erweitert und engagiert sich nun auch für die Freilassung aller politischen Gefangenen in der Region. Auch sollen die dort arbeitenden kleinen Haschischbauern juristisch nicht mehr verfolgt werden. "Die Demonstranten treten auch für bessere Arbeitsmöglichkeiten, eine fairere Verteilung der Einkünfte und generell eine gute Regierungsarbeit ein", so der regierungskritische Journalist Ali Anouzla.
Die Fischer der Region, berichtet Tel Quel, forderten eine Fischverarbeitungsanlage. Diese würde ihre Produkte auch international konkurrenzfähig machen. Hinzu kämen weitere Forderungen. So sei die Region bisher kaum - wie viele andere ländliche Gegenden in Marokko - an die Zentren angebunden. "Darum verlangen die Demonstranten auch den Bau einer Eisenbahn und einer Schnellstraße", so Tel Quel. 

Hafen von Al Hoceima
Investitionen in die ländliche Region: der Hafen von Al-HoceimaBild: K.Ahdad 

Blick auf Europa

Die Regierung habe erhebliche Investitionen in die ländlichen Regionen getätigt, sagt hingegen Mohamed El-Ghali, Politikwissenschaftler an der Cadi Ayyad Universität in Marrakesch. "Diese Regionen erfreuen sich sogar einiger Privilegien, die andere Landesteile nicht kennen." Hinzu komme ein weiteres Problem: die gestiegenen Erwartungen der Bevölkerung. "Viele Menschen auf dem Land haben Freunde oder Verwandte, die in Europa leben. Aus diesem Grund kennen sie die europäischen Lebensverhältnisse sehr gut." Diese verglichen sie dann mit der eigenen Lage und seien mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit entsprechend unzufrieden, so Al-Ghali im Gespräch mit der DW.

Ihre Lage ist aber nicht nur im Vergleich mit Europa schwierig. Die Analphabetenquote beträgt in Marokko gut 28 Prozent, die Arbeitslosenquote für das Jahr 2017 wird auf zehn Prozent geschätzt - tatsächlich könnte sie weit darüber liegen. 15 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Im "Corruption Perceptions Index" von Transparency International für das Jahr 2015 liegt Marokko auf Platz 88 - von 168 Ländern insgesamt. Entsprechend fordern die Demonstranten auch eine stärkere und entschlossenere Bekämpfung der Korruption.

Kulturelle Identität oder Separatismus?

Auffallend war, dass einige Demonstranten die Flagge ihrer ethnischen Gruppe, der Amazigh, eines in Marokko weit verbreiteten Berberstamms, schwangen. Hingegen habe die marokkanische Flagge bei den Protesten gefehlt, berichteten Beobachter.
Es gebe Gruppen, die versuchten, die Protestbewegung für ihre Zwecke in Beschlag zu nehmen, meint dazu Mohamed El-Ghali. "Sie wollen eine Trennung zwischen Arabern und Angehörigen der Amazigh bewirken und widersprechen damit der Identität Marokkos als einheitlicher Nationalstaat", kritisiert er. Es sei nötig, diese "von außen" an die Bewegung herangetragenen identitätspolitischen Motive möglichst klein zu halten, so El-Ghali. Damit deutet er an, dass auch Nachbarstaaten bei den Protesten ihre Hände mit im Spiel haben könnten. In Marokko wird Ähnliches meist Algerien unterstellt.

Protest der Amazigh in Rabat
Proteste unter der Flagge der AmazighBild: Getty Images/AFP/F. Senna

Der Journalist Ali Anzula bewertet das Phänomen der Amazigh-Flaggen anders. "Die Fahnen sind ein kulturelles Identitätszeichen, aber die Demonstranten stellen die Einheit des Landes dadurch überhaupt nicht in Frage", meint er. Dadurch, dass die Demonstranten die Amazigh-Flagge mit sich führten, würden sie lediglich verdeutlichen, dass sie ihre Forderungen auf ihre Region beschränkt sehen wollten und mitnichten beanspruchten, für das gesamte Land zu sprechen - so die Interpretation von Anouzla.

Nasser Zefzafi, der Führer der Protestbewegung von Al-Hoceima, befindet sich nun in Haft. Am Umgang mit ihm dürfte sich wesentlich entscheiden, welchen weiteren Verlauf die Krise von Al-Hoceima nimmt und wie es mit den Protesten weitergeht.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika