Der Grenzgänger
31. Mai 2013Es hätte auch schief gehen können. Ein Roman über New York. Die Stadt als Schmelztiegel von unterschiedlichen Nationen, an jeder Ecke scheinbar eine Neurose und eine Sehenswürdigkeit. Vieles, was man über den Big Apple schreibt, klingt, als hätte man es schon irgendwo anders gelesen. Zu groß ist die Faszination, zu leicht der Griff in die altbewährte Klischeekiste. Doch wenn Teju Cole in "Open City" seinen Ich-Erzähler durch New York schickt, entdeckt man diesen Moloch neu. Diesmal mit den Augen eines Flaneurs.
Streifzüge durch New York
Julius, ein angehender Psychiater, irrt nach Feierabend durch die Straßen einer wunden Stadt. Es sind die Jahre nach 9/11. Eine diffuse Unsicherheit liegt über dem Hudson River. Die Menschen scheinen gefangen in einer Spirale aus Angst und Alltag. Auf seinen Streifzügen begegnet Julius, Sohn eines Nigerianers, anderen Einwanderern - japanischen Akademikern, haitianischen Schuhputzern, Liberianern in Abschiebehaft.
"So drang New York City im Schritttempo in mein Leben ein. […] Doch der Eindruck dieser zahllosen Gesichter trug nicht dazu bei, mein Gefühl der Isolation zu lindern; es wurde eher noch verstärkt."
Selbstbewusster Beobachter
Julius fühlt, dass er aneckt. Er ist ein Intellektueller mit schwarzer Hautfarbe, der mit der gleichen Selbstverständlichkeit über eine Mahler-Sinfonie sinniert wie über seine afrikanischen Wurzeln. Und das irritiert – die weiße Kulturschickeria genauso wie den afroamerikanischen Taxifahrer. Julius wird langsam zu einem lakonischen Beobachter. Block für Block, Viertel für Viertel erkundet er die Vielstimmigkeit New Yorks. Die Geschichte von ehrgeizigen Migranten und Verlierern, historische Exkurse und philosophische Reflexionen fließen nahtlos ineinander. "Open City" gleicht einem faszinierenden Strom aus Beobachtungen und Gedanken. Der Leser kann sich in diesem Roman wundersam verlaufen wie in den Straßen von New York.
"Am Leben sein hieß Original und Spiegelung in einem zu sein; tot zu sein bedeutete, abgespalten zu sein, ein bloßes Spiegelbild."
Ein Leben voller Widersprüche, changierend zwischen Kulturen und Sprachen - genau das interessiert den Schriftsteller Teju Cole. Der 37-Jährige ist selbst in Nigeria aufgewachsen und kam erst zum Studium in die USA. Heute lebt er als Autor, Fotograf und Kunsthistoriker in Brooklyn. Ein Afropolit, der sich weder um Länder- noch um Genregrenzen schert.
Preisgekrönter Erstling
Sein Debütroman "Open City" wird nun mit dem Internationalen Literaturpreis geehrt. Damit zeichnet das Berliner Haus der Kulturen der Welt ein herausragendes Buch und seine deutsche Erstübersetzung aus. Tejo Coles Werk setzte sich gegen rund 130 andere fremdsprachige Titel durch. Zuvor hatte das amerikanische Feuilleton bereits den Erstling frenetisch gefeiert. Renommierte Zeitungen wie die "New York Times" verglichen den jungen Autor mit Schriftsteller-Legenden wie James Joyce.
Tatsächlich reiht sich Teju Cole mit seinem Flaneur-Roman in eine lange literarische Tradition ein. Schon immer haben Schriftsteller wie W. G. Sebald oder Guillaume Apollinaire Städte in langen Spaziergängen reflektiert, Schritt für Schritt ihre Essenz herausgeschrieben. Teju Coles unaufgeregt-präzise Sprache knüpft an diese großen Vorbilder an, ohne gestrig zu wirken.
Weg mit Multikulti-Klischees
Vielmehr seziert der Autor die ethnische Vielfalt New Yorks und legt die Wunden dahinter frei. Harmlose Multikulti-Klischees sucht man in diesem Buch vergeblich. Hier schustern sich Menschen hybride Identitäten zusammen. Mal ist Bildung ihr Anker, mal das Geld. Sie fühlen sich überall und nirgends zu Hause. Ein Begriff wie Heimat wirkt in ihrer Welt wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten.
Doch ist Einsamkeit der Preis für dieses Dazwischen-Sein? Teju Cole hinterlässt winzige Leerstellen, kleine Geheimnisse. Vielleicht weil auch er ein solcher Grenzgänger ist. Einer, der mit seinem Roman "Open City" nun ein Meisterwerk geliefert hat – ein ziemlich großes!