Junge Polen entdecken ihre jüdischen Wurzeln
25. Januar 2024Seit zehn Jahren fährt an jedem 27. Januar eine leere Straßenbahn durch die Straßen von Warschau. Sie hat keine Nummer, stattdessen trägt sie an ihrer Stirnseite einen weithin sichtbaren Davidstern auf dem Dach. Die Route des historischen Waggons geht durch die Bezirke, die die deutschen Besatzer 1940 in das größte jüdische Ghetto Europas verwandelt hatten.
Am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erinnert die leere Straßenbahn an die ermordeten Warschauer Juden. Vor ihrer Vernichtung durch Nazideutschland lebten in Warschau 330.000 Juden, ein Drittel aller Einwohner der polnischen Hauptstadt. Sie bildeten nach New York die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Welt.
Die Hauptfeierlichkeiten zum Gedenken an die Opfer des Holocaust finden auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz statt, das im heutigen Südpolen liegt. In dieser größten Todesfabrik der Nazis wurden von 1940 bis 1945 1,1 Millionen Menschen ermordet, über 90 Prozent von ihnen waren Juden aus Polen und anderen besetzten Ländern Europas. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit. Daran wird seit 2005 jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag weltweit erinnert.
Von den sechs Millionen jüdischen Holocaustopfern wurde ein Großteil auf dem Territorium des besetzten Polen ermordet. Viele jüdische Menschen sehen daher Polen bis heute als einen einzigen großen Friedhof an.
Ein Leben am geschichtsträchtigen Ort
Wie kann man heute als Jude in Polen leben? Das wird Franciszek Bojanczyk oft von ausländischen Besuchern gefragt. Auch er hat einen Teil seiner Vorfahren im Holocaust verloren. Trotzdem würde der 30-jährige Historiker Warschau nie verlassen.
"Wenn ich durch die Straßen von Warschau gehe, denke ich manchmal daran, was hier passiert ist", sagt er im Gespräch mit der DW. "Aber nicht ständig. Wenn ich jeden Tag darüber nachdenken würde, wie tragisch dieser Ort ist, könnte ich wohl nicht hier leben. Man kann nicht die ganze Zeit über den Tod nachdenken", so Bojanczyk. Seit Beginn des Jahres ist er im "Polin", dem Museum der Geschichte der polnischen Juden in Polens Hauptstadt, für die Kontakte mit der jüdischen Diaspora verantwortlich.
Auch Zofia Bojanczyk, Franciszeks Frau, arbeitet im Museum. Auch sie hat jüdische Wurzeln - aber die Familie ihrer Mutter war schon vor Generationen zum Katholizismus übergetreten. "Bei uns zu Hause gab es auch immer viele jüdische Freunde meiner Eltern, obwohl wir zum Beispiel nie religiöse Feiern hatten", sagt sie. Doch die jüdische Welt sei ihr nicht fremd. "Sie ist nichts, was ich erst entdecken musste oder was mich sehr überrascht hätte."
Väterlicherseits war es noch komplizierter: Zofias Großvater wurde als Kind von polnischen Eltern adoptiert und so vor der Vernichtung gerettet. "Aber daher wuchs er in einem polnischen Haus auf, wurde getauft - und ist strenggläubiger Katholik", erzählt die Enkelin. Leider spreche die Familie nicht gerne darüber. "Diese Geschichte wird ein wenig unter den Teppich gekehrt", sagt Zofia. Sie hofft, sie vor dem Vergessen zu retten und zusammen mit ihrem Vater in Zukunft näher untersuchen zu können.
Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln
Dass man seine jüdischen Wurzeln suchen muss, ist nicht ungewöhnlich in Polen. Nach dem Holocaust haben polnisch-jüdische Familien oft versucht, den jüngeren Generationen das Wissen um das grauenvolle Schicksal ihrer Vorfahren zu ersparen.
Als sich Franciszek in der Schule für jüdische Geschichte zu interessieren begann, zeigte ihm seine Mutter die Erinnerungen ihres Großvaters, eines Holocaustüberlebenden. Bis dahin hatte er keine Ahnung vom jüdischen Teil seiner Herkunft. "In den Notizen meines Urgroßvaters, Tadeusz Neuman, habe ich eine assimilierte Familie entdeckt, die sich als Polen identifizierte." Sie gingen nicht in die Synagoge und ließen sich noch vor dem Krieg taufen. Als die deutschen Besatzer 1940 alle Juden in Warschau hinter die neu errichteten Ghettomauern zwangen, konnten die Neumans diesem Schicksal entkommen.
Tragische Schicksale der europäischen Juden
Tadeusz Neuman, an der Universität München ausgebildeter Architekt, hatte vor dem Krieg hohe Funktionen in der polnischen Industrie inne. Seine Frau, Zuzanna Goldfeder, war Nichte des berühmten französischen Autoherstellers André Citroën. Die wohlhabende Familie konnte jahrelang immer neue Dokumente besorgen, Verstecke bezahlen oder die Gestapo bestechen. Tadeusz und sein Sohn überlebten, Zuzanna dagegen wurde 1942 von der Gestapo verhaftet, ins Ghetto verschleppt und dort erschossen.
"Vielleicht wurde sie hier ermordet oder ganz in der Nähe des Ortes, wo ich gerade arbeite", sagt Franciszek nachdenklich. Das prächtige Polin-Museum steht auf dem ehemaligen Ghettogelände, in der Nähe des Umschlagplatzes, von dem Hunderttausende Juden in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. "Aber ich denke auch an die Menschen, die hier aus den Trümmern ein neues Leben aufgebaut haben", sagt er.
Antisemitismus in Polen
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Polen fast 3,5 Millionen Juden. Sie machten zehn Prozent der Bevölkerung des Landes aus. Knapp über 400.000 von ihnen überlebten den Holocaust. Doch die meisten Überlebenden verließen Polen nach 1945, auch wegen Pogromen und antisemitischen Kampagnen der damals dort herrschenden Kommunisten. Nach dem Ende der Diktatur 1989 begannen die jüdischen Gemeinden wiederaufzuleben. Die Zahl der Menschen mit jüdischen Wurzeln in Polen wird derzeit auf über 20.000 geschätzt.
Nach Franciszek Bojanczyks Ansicht kann man sich in Polen als Jude sicher fühlen. "Glücklicherweise gibt es hier keine so dramatischen antisemitischen Ereignisse wie in Paris oder in den Vereinigten Staaten, die uns an die Vorkriegszeit erinnern, wie etwa das Beschmieren von Türen mit dem Davidstern", erklärt Franciszek Bojanczyk. Zwar häuften sich zuletzt im Internet antisemitische und antiisraelische Parolen, vor allem wegen des Kriegs in Gaza, trotzdem bleibe Polen ein freundlicher Ort für jüdische Menschen.
Weiße Flecken in der Geschichtsdebatte
Bojanczyk hofft auch auf die Aufarbeitung der schwierigen Fragen in den polnisch-jüdischen Beziehungen. Er verweist auf ein Gesetz der damaligen rechtskonservativen PiS-Mehrheit im polnischen Parlament von 2018 , das für die These über die polnische Mittäterschaft am Holocaust eine Gefängnisstrafe vorsah. Das Gesetz wurde später unter internationalem Druck zurückgezogen.
"Man darf die heldenhaften Taten vieler Polen während des Holocaust nicht leugnen, aber man soll nicht vergessen, dass sich die Menschen ganz unterschiedlich verhalten haben", sagt er. "Da haben wir noch viel aufzuarbeiten in den kommenden Jahren."
Jüdisches Erbe als Teil der Identität
Zofia und Franciszek Bojanczyk blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Ihr zweijähriger Sohn soll seine Wurzeln nicht suchen müssen, sondern davon direkt von den Eltern erfahren. "Ich möchte ihm eine jüdische Erziehung geben, die ich selbst nicht bekommen habe, damit es für ihn natürlich ist, damit er nicht später etwas aus seinem Gedächtnis ausgraben muss oder beiläufig erfährt", sagt Zofia.
So wie sie und ihr Mann suchen derzeit viele junge Polen mit jüdischen Wurzeln ihre Identität. Sie hoffen, dass in Zukunft sowohl in den Familien als auch in der Öffentlichkeit schwierige jüdisch-polnischen Themen nicht mehr als Tabu betrachtet werden.