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"Der internationale Handel ist kein Nullsummenspiel"

Zhang Danhong
15. März 2019

Welche Note verdient die GroKo? Wie sinnvoll ist eine deutsche Industriepolitik? Und bei welchem Thema hadert er am meisten mit der Kanzlerin? Der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt im DW-Interview.

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Prof. Dr. Christoph M. Schmidt (Sven Lorenz)
RWI-Präsident, Wirtschaftsweise und Professor an der Ruhr-Universität Bochum Christoph Schmidt Bild: RWI/Sven Lorenz

DW: Herr Professor Schmidt, Sie sind seit zehn Jahren Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und seit sechs Jahren stehen Sie diesem Rat vor, dessen Mitglieder im Volksmund auch Wirtschaftsweise genannt werden. Sie sind quasi der weiseste Ökonom in diesem Land. Macht die Bundesregierung von ihrer Weisheit Gebrauch?

Prof. Schmidt: Wir spielen als Sachverständigenrat aus meiner Sicht eine wichtige Rolle für Politik und Gesellschaft. Denn wir beraten nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Politik und Gesellschaft an Ganze. Wir stellen unsere Einsichten und unsere Analysen jedem zur Verfügung, allen Entscheidungsträgern, also auch den Unternehmen, den Wirtschaftslenkern und den Steuerzahlern. Jeder hat den gleichen Zugang zu unseren Dokumenten. Dabei spielen wir eine wichtige Rolle als Querdenker, weil wir unabhängig sind, also nicht Teil des Regierungsapparates. Damit sind unsere Ideen und unsere Vorstellungen nicht immer ganz kongruent mit der dominierenden Meinung im politischen Geschehen oder auch im öffentlichen Diskurs. Das macht uns zu einem besonders wertvollen Impulsgeber. Natürlich haben wir die Weisheit nicht gepachtet. Es gibt viele gute Analysen und viele gute Stimmen. In der Summe all dieser Argumente kann sich dann der mündige Bürger oder die mündige PolitikerIn das heraussuchen, was er oder sie als die beste Basis für sein eigenes oder ihr eigenes Urteil empfindet. Von daher finde ich, dass der Sachverständigenrat eine ganz wichtige Einrichtung ist. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich diese Gelegenheit hatte, seit zehn Jahren dort zu wirken.

Stimmt das, dass die Wirtschaftsweisen eigentlich gar keine Empfehlungen für die Regierung geben dürfen?

Wir sind tatsächlich aufgefordert, aus unserer fachlichen Kompetenz als sogenannte Expertinnen und Experten Urteile vorzubereiten, eine eigene Position zu bilden und die dann auch nach außen zu vertreten. Aber wir haben keine Mission in dem Sinne, dass wir jemanden von genau dieser Position überzeugen wollen oder sollen. Wir sollen eine Basis für einen informierten Diskurs in der Gesellschaft und in der Politik bilden. Das heißt aber auch, dass wir beispielsweise nicht sagen: "Wir empfehlen einen Mindestlohn von genau zehn Euro." Solche konkreten Empfehlungen sind das, was wir nicht machen. Wir geben vielmehr unsere Einschätzung dazu ab, welche Folgen wir beispielsweise bei Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in welchen Konjunkturphasen erwarten. 

Sie haben das Stichwort genannt. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie sich von Anfang an gegen einen Mindestlohn ausgesprochen. Nun ist er seit Januar auf 9,19 Euro angehoben worden. Welche Auswirkungen wird das Ihrer Meinung nach haben?

Wir haben im Vorfeld der Einführung des flächendeckenden Mindestlohns eine kritische Diskussion dazu geführt. In unserem Jahresgutachten haben wir dargelegt, welche Argumente dafür und welche dagegen sprechen. Und vor allem haben wir die Belege gesammelt, die es im internationalen Kontext zur Wirkung von Mindestlöhnen gibt. Eine häufige negative Wirkungsweise ist, dass junge, nicht gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tendenziell ausgegrenzt werden, gerade in konjunkturell schlechten Situationen. Andererseits hebt er das Einkommen von anderen Arbeitnehmern an. Das ist eine sehr komplexe Situation, die wie immer im ökonomischen Geschehen Verlierer und Gewinner gleichzeitig aus einer Weichenstellung herauskommen lässt. In der Abwägung der Risiken und Chancen haben wir damals gesagt, wir würden der Bundesregierung nicht anraten, diesen Schritt zu gehen. Nun hat sie den Schritt trotzdem unternommen und zwar in einer Zeit, in der die Konjunktur boomte. Der deutsche Arbeitsmarkt ist unfassbar robust gewesen über das vergangene Jahrzehnt und konnte den Mindestlohn locker wegstecken. Die große Frage aus unserer Sicht ist aber immer noch: Was passiert in einem konjunkturellen Abschwung? Von den 9,19 Euro wird jetzt angesichts der weiterhin guten konjunkturellen Lage kein starker negativer Impuls ausgehen. Die Sorge darum, was passiert, wenn die Konjunktur mal ganz anders aussieht, bleibt jedoch bestehen. Wir haben ein sehr gut funktionierendes System der Armutsbekämpfung in Deutschland, das über Steuern und Transfers funktioniert. Deswegen haben wir vergleichsweise wenig relative Armut und so gut wie keine absolute Armut. Dieses System zu stärken, wäre mein Königsweg gewesen - statt eines Mindestlohns. Aber nun haben wir ihn, und es ist auch kein Weltuntergang.

Prof. Christoph Schmidt und Zhang Danhong
Prof. Schmidt mit DW-Redakteurin Zhang DanhongBild: Jiny Lan

Im Moment haben wir die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung und Rekordsteuereinnahmen. Demnach müsste die GroKo nach nun exakt einem Jahr eine Eins von Ihnen auf dem Zeugnis bekommen.

Wir geben grundsätzlich keine Noten, weil die das Geschehen viel zu sehr verdichten. Bei der komplexen Gemengelage, in der die Bundesregierung agieren muss - national wie international -, finden wir immer viele gute und viele kritikwürdige Elemente. So sind wir beispielsweise bei der Handhabung der Eurokrise weitgehend auf der Linie der Bundesregierung gewesen. National finden wir manche Weichenstellungen hingegen nicht so gelungen. Nun kann die Bundesregierung weder den Aufschwung alleine bewerkstelligen, noch kann sie dafür verantwortlich gemacht werden, wenn es mal nicht so gut geht. Noten würden andeuten, dass die Regierung es besonders gut steuert, wenn es gut läuft und dass sie besonders schlecht steuert, wenn es schlecht läuft. So einfach ist die Welt nicht. Genauso würden wir auch kein Lob dafür entgegennehmen, wenn unsere Prognosen hohes Wachstum für Deutschland vorhersagen. Denn der Bote ist nicht derjenige, der das Ergebnis herbeiführt. Die Politik hat natürlich einen erheblichen Anteil am Ergebnis. Aber sie kann das Ergebnis auch nicht alleine bewerkstelligen.

Wir befinden uns im Jahr zehn des wirtschaftlichen Wachstums, das sich aber nun deutlich abschwächt. Das liegt auch an der Großwetterlage. Beim Brexit müssen wir uns wohl auf einer Verlängerung der Ungewissheit einstellen. Wir lesen und hören, auf welch eine Katastrophe Großbritannien zusteuert. Aber was bedeutet eigentlich der Brexit für Deutschland, das einen engen Verbündeten bei den Wirtschaftsthemen verliert?

Sie sprechen ein sehr wichtiges Thema an. Die Folgen werden nicht nur rein wirtschaftlicher Natur sein und direkte Auswirkungen beispielsweise auf Lieferketten, auf Produktionsketten und Ähnliches haben. Die tatsächlich dramatischen Wirkungen können auf der politischen Ebene bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union liegen. In der Tat hat die wirtschaftsliberale Stimme des Vereinigten Königreichs einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung Europas geleistet. Europa ist sehr vielfältig und heterogen. Aus dieser Vielfalt kann Europa unfassbar viel Kraft schöpfen. Aber das ist nur dann möglich, wenn diejenigen, die mehr staatliches Engagement, einen viel stärkeren Sozialstaat und einen stark regulierten Arbeitsmarkt für richtig halten, sich mit denjenigen zusammenraufen, die mehr auf freie Märkte und Arbeitsteilung setzen. Das hat sich auch in der Vergangenheit gezeigt. Wenn die britische Stimme in diesem Diskurs in Zukunft fehlen sollte, dann wäre das für die Weiterentwicklung Europas insgesamt schlecht. Das ist aus meiner Sicht weit wichtiger als die kurzfristigen wirtschaftlichen Wirkungen, die aber auch erheblich sind, vor allem für Großbritannien selbst.

Heute geht in China der jährliche Volkskongress zu Ende, was bedeutet, dass dort die Normalität wieder einkehrt. Die Verhandlungen mit den USA in Sachen Handelsstreit können jetzt in die Endphase eintreten. Was erwarten Sie?

Wenn man sich die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte anschaut, ist der internationale Handel eine Win-Win-Situation. Je mehr internationale Arbeitsteilung ermöglicht wird, desto besser können sich einzelne Volkswirtschaften auf ihre eigenen Stärken konzentrieren und im internationalen Geschehen an Wirtschaftsleistung gewinnen, gleichzeitig mit den anderen. Man soll das nicht missverstehen und denken, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt. Von daher kann man nur hoffen, dass bei allem Armdrücken der beiden Giganten am Ende eine Lösung herauskommt, die die internationale Welthandelsordnung weiterhin offenlässt.

Beim Handelsstreit geht es letztendlich auch um den weiteren Aufstieg Chinas und ob der aus US-Sicht zu verhindern oder zu verlangsamen ist. Vor diesem Hintergrund ist auch die ganze Diskussion über Huawei meines Erachtens zu sehen. Wie soll sich Deutschland positionieren? Soll die Bundesregierung Huawei vom Aufbau des 5G- Mobilfunknetzes ausschließen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, zu der ich als Wirtschaftsexperte vergleichsweise wenig zu sagen habe. Da stehen Vorwürfe im Raum, die Informationen benötigen, die vielleicht die Bundesregierung hat, die aber dem außenstehenden Wirtschaftswissenschaftler verschlossen sind. Von daher würde ich mich an dieser Stelle zurückhalten. Grundsätzlich ist es so, dass Deutschland als eine offene Volkswirtschaft sehr großes Interesse hat, im Verbund mit den anderen europäischen Volkswirtschaften dafür zu sorgen, dass die liberale Welthandelsordnung erhalten bleibt, selbst wenn aus deutscher Sicht die Herausforderungen durch internationale Wettbewerber sehr groß sind. Momentan wird gerade über eine Industriepolitik diskutiert. Nehmen wir China und Deutschland als Beispiel: Beide sind füreinander wichtige Handelspartner. Wenn beide Länder investierende Unternehmen aus der jeweils anderen Volkswirtschaft bei sich zulassen und damit Wettbewerb für die heimischen Unternehmen schaffen, dann haben beide was davon. Eine Situation, in der beispielsweise nur China Unternehmen nach Deutschland sendet, aber in China die deutschen Unternehmen nicht so freimütig zum Zuge kommen, ist auf Dauer nicht nachhaltig. Wenn Deutschland als Antwort darauf den deutschen Markt gegenüber chinesischen Investoren verschließt, ist das auch keine langfristig sinnvolle Lösung. Am besten wäre es, wenn man sehr klar ein "level playing field" schaffen würde. China sollte sich öffnen und europäischen Unternehmen sowie Unternehmen aus anderen Ländern gestatten, in China zu investieren - ohne Auflagen wie einen bestimmten Anteil an chinesischen Produkten zu verwenden oder die Betriebsinformationen offenzulegen. Auf Dauer würde das für China gut sein, weil der Wissenstransfer, der dann freiwillig kommt, viel mehr wert ist als das Wissen, was man vielleicht kurzfristig aus Auflagen abschöpfen kann. Deutschland wiederum täte gut daran, sich darauf zu besinnen, dass die Öffnung gegenüber ausländischen Investoren neues Wissen und neuen Wettbewerbsdruck bringt, der dann aber zu Leistung führt. Fazit: Wir alle haben sehr viel zu gewinnen, wenn wir offen und fair miteinander umgehen – nach dem Prinzip der Reziprozität.

Beim Brexit oder beim Handelsstreit hat Deutschland wenig Gestaltungsmöglichkeit. Aber die Bundesregierung kann wohl einiges tun um, das Land fit für die Zukunft auszurüsten. Stichwörter: demografische Entwicklung, Digitalisierung oder künstliche Intelligenz. Tut die Bundesregierung Ihrer Meinung nach genug?

Sie tut sehr viel. Deutschland hat eine sehr gute Basis, wenn es darum geht, die Arbeitsbevölkerung auf die Zukunft vorzubereiten. Wir haben im internationalen Vergleich ein leistungsfähiges Schulsystem, ein leistungsfähiges System der Hochschulausbildung und vor allem auch der beruflichen Ausbildung. Unternehmen, die hier produzieren oder ihre Forschungseinheiten ansiedeln wollen, finden sehr gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor. Es könnte aber noch besser sein: insbesondere auf den digitalen Wandel könnten wir unsere nachfolgenden Generationen noch besser vorbereiten. Da könnte man mehr investieren. Im Großen und Ganzen finde ich das deutsche System der sozialen Marktwirtschaft aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit an große Herausforderungen bei gleichzeitiger Bewahrung des sozialen Zusammenhalts unheimlich leistungsfähig. Das heißt aber nicht, dass wir im Einzelnen die Bundesregierung nicht kritisieren. Im Gegenteil, in einzelnen Politikfeldern wie beispielsweise bei der Rentenpolitik kritisieren wir sie sogar sehr stark.

Gabor Steingart hat diese Woche in seinem Podcast gesagt, Frau Merkel will nicht Reform und Aufruhr. Sie will Ruhe und Mittagsschlaf. Müssen wir warten, bis Frau Merkel ihr Kanzleramt abgibt, um auf schwungvollere Zeiten für Deutschland zu hoffen?

Es ist die Rolle von Journalisten zuzuspitzen und die Debatte zu befeuern, und es ist die Rolle von Wissenschaftlern, die Sachlichkeit zu betonen. Wenn man sich die Regierungszeit von Frau Merkel im historischen Rückblick anschaut, wird man sehen, dass sie in großen Krisenzeiten ein sehr schwer zu steuerndes Schiff durch die Orkane geführt hat. Natürlich ist das gleichbedeutend mit dem Umstand, dass einige der Reformen, die man sich gewünscht hätte, eher nicht angegangen worden sind. Nehmen wir zum Beispiel die Energiewende, eine der wichtigsten Herausforderungen global. Wir müssen irgendwie wegkommen von der Nutzung fossiler Energieträger und von der Emission von CO2 in die Atmosphäre. Da haben wir in Deutschland viel unternommen, aber den wirklich mutigen Schritt, uns umfassend auf marktwirtschaftliche Prozesse zu verlassen und eine CO2-Bepreisung vorzunehmen, sind wir nicht gegangen. Andererseits gilt auch bei der Politik wie bei allen anderen Unternehmungen: erst einmal besser machen.

Prof. Dr. Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor an der Ruhr-Universität Bochum.