Der "kurdische Obama"
3. August 2014"Sie fällten Bäume, deren Schatten sie nicht verkaufen konnten. Sie haben Kinos geschlossen, zentrale Plätze geräumt. Was ist denn mit unserer Stadt passiert? Überall sieht man nur noch Gebäude!" Im Wahlkampflied des Politikers Selahattin Demirtaş finden sich jede Menge Anspielungen auf die Gezi-Proteste der vergangenen Monate. Mit dieser Kritik an Erdoğan will der Kurde bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen dem amtierenden Ministerpräsidenten und dem kemalistischen Kandidaten Ekmeleddin İhsanoğlu die Stirn bieten. Echte Chancen dürfte der eher unbekannte Politiker kaum haben - dennoch bringt er ganz neue Facetten in diesen ganz vom unumstrittenen Favoriten Erdoğan dominierten Wahlkampf.
Wie sehr sich sein Profil von dem anderer türkischer Politiker unterscheidet, zeigt sich nicht nur in seiner offenen Sympathie für die jüngsten Proteste der aufstrebenden urbanen Mittelschicht, sondern spiegelt sich auch in seinem Werdegang: Mit seinen 41 Jahren ist Selahattin Demirtaş der mit Abstand jüngste der Kandidaten für das Präsidentenamt.
Er ist von Beruf Anwalt, war im Vorstand der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD und ist Mitglied bei Amnesty International. Den Großteil seines bisherigen politischen Lebens verbrachte Demirtaş in Diyarbakir, der Hochburg der Kurden im Südosten der Türkei.
In Interviews verspricht er, sich im Fall seiner Wahl für ethnische und religiöse Minderheitenrechte, die Gleichberechtigung von Frauen und für die Rechte von Homosexuellen einzusetzen. Er bricht damit ein Tabu, denn er ist der erste türkische Politiker, der die homosexuelle Minderheit direkt anspricht. Schon jetzt gibt es in seiner Partei "Demokratische Partei der Völker" (HDP) eine Doppelspitze, bestehend aus einer Politikerin und einem Politiker - auch das einmalig in der türkischen Parteienlandschaft.
"Lokale Selbstverwaltung": Mehr Demokratie - oder Separatismus?
Ein besonderes Gewicht hat aber vor allem seine Forderung nach mehr Eigenständigkeit der Regionen: "Lokale Selbstverwaltung bedeutet eine Machtbalance zwischen der Zentralregierung und den lokalen Strukturen", erklärte Demirtaş in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN Türk. Wenn die Zentralregierung ihre Macht nicht mit der Basis vor Ort teile, würden lokale Interessen keine Beachtung finden. Demirtaş denkt dabei vor allem an kurdisch dominierte Gebiete in der Türkei, in denen Kurden mehr Mitspracherecht in Sachen Bildung und politische Partizipation verlangen.
Seine Forderung nach einer stärkeren lokalen Selbstverwaltung wird deshalb in einigen türkischen Kreisen interpretiert als erster Schritt hin zum Separatismus. Denn Demirtaş' Partei wird als politischer Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK angesehen. Die HDP weist diesen Vorwurf zwar offiziell zurück: Doch es ist bekannt, dass sich ihre Repräsentanten immer wieder mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan treffen und dessen Ideologie verbreiten. "Wenn ich zum Präsidenten gewählt werde, werde ich das Land nicht spalten", verspricht demgegenüber Demirtaş im CNN Türk-Interview. Seine Wahl, so Demirtaş, wäre ein deutliches Zeichen dafür, dass Kurden mit ihren demokratischen Rechten innerhalb der türkischen Grenzen leben wollten.
Chancenloser Kandidat?
"Sechs bis sieben Prozent der Stimmen kann Demirtaş bekommen", prognostiziert der türkische Journalist Cengiz Çandar. Er schreibt seit mehreren Jahren in seinen Kolumnen über Kurden und kurdische Parteien. "Demirtaş rechnet sowieso nicht mit seiner Wahl. Aber allein die Tatsache, dass er sich als Kurde als Kandidat für das Präsidentenamt aufstellen lassen kann, zeigt, welches Selbstbewusstsein Kurden in der Türkei mittlerweile haben", ergänzt der Journalist. Egal, wie die Wahlen ausgehen: Demirtaş werde bei innenpolitischen Themen, insbesondere den Friedensgesprächen zwischen der türkischen Regierung und der PKK, ernster genommen, betont Çandar.
Der Journalist bemerkt auch, dass Demirtaş' Kandidatur für die Wahrnehmung der Kurden in der Türkei sehr wichtig sei. "Früher hatten viele Menschen eine Aversion gegen Kurden und ihre Forderungen. Aber seit den Gezi-Protesten gibt es eine Annäherung zwischen Türken und Kurden." Er halte es zudem für möglich, sagt er, dass ein geringer Teil ehemaliger Wähler der kemalistischen Partei CHP den Kurden Demirtaş wählt.
Kann er den Kemalisten Stimmen abjagen?
Der Student Y., der seinen vollständigen Namen nicht nennen möchte, kommt aus einer Familie, in der schon immer die CHP gewählt wurde, "aus Tradition", wie er sagt. Auch seine Freunde werden bei der bevorstehenden Präsidentenwahl für die CHP stimmen. "Aber ich wähle Demirtaş", sagt der 24-Jährige. "Ich sehe ihn und seine Partei nicht nur als kurdisch. Je mehr Menschen ihn wählen, desto wahrscheinlicher wird es, dass seine Partei bei den nächsten Wahlen die 10-Prozent-Hürde überschreitet."
Auch wenn seine Erfolgschancen bei dieser Wahl erst einmal gering sind: Selahattin Demirtaş' Kandidatur ist einmalig in der Türkei und kennzeichnet eine neue Ära für die kurdische Minderheit. Auch wenn Selahattin Demirtaş vielleicht am Ende kein "kurdischer Obama" werden wird, ist es ihm bereits gelungen, ein bisschen Schwung in einen Wahlkampf zu bringen, der eigentlich schon entschieden ist.