Der offene Brief an Merkel im Wortlaut
3. November 2015Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
wir unterstützen Ihre Politik der offenen Grenzen. Wir unterstützen Ihre Flüchtlingspolitik und Ihren Einsatz um der Menschen willen. Mit größtem Respekt sehen wir Ihre feste Haltung zur Aufnahme asylsuchender Flüchtlinge bei uns in Deutschland.
Ein Volk, wie das unsere, das in die Geschichte der Welt eingeschrieben ist als Land von Vertreibung und Ermordung eines Teils seiner Bevölkerung und von Teilen der Bevölkerung seiner Nachbarländer öffnet 70 Jahre nach dem Holocaust seine Grenzen und rettet Menschen aus Not und Tod. Bürgerinnen und Bürger helfen Flüchtlingen. Das ist das Land, in dem wir leben wollen, von dem wir geträumt haben.
Erst 25 Jahre liegt es zurück, dass wir selbst hinter Zäunen, Stacheldraht und Mauern eingesperrt waren. Wir gehörten damals zur Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR und Osteuropa. Wir haben damals viel diskutiert über die Frage "Ausreisen oder Bleiben". Die Flucht zu versuchen, das war damals eine verzweifelte Option für viele hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrter Menschen. Die großen Demonstrationen in Leipzig haben im September 1989 begonnen mit der Forderung nach einem offenen Land mit freien Menschen. Wir können und wollen heute Menschen, die ihre Freiheit suchen, die ihr Leben und das ihrer Familien retten wollen, nicht an unseren Grenzen ertrinken lassen. Wir wollen keine Zäune errichten, die wir für uns selbst vor mehr als 25 Jahren niedergerissen haben.
Wir merken jetzt, dass wir Menschen auf der Welt nicht mehr ganz so einfach wie bisher nach Nationen, in Deutsche/EU-Bürgerinnen und in Fremde unterteilen können. Denn die Welt ist in den letzten 25 Jahren zusammengewachsen, die Menschen sind sich über nationale Grenzen hinweg näher gekommen.
Es ist unlauter, die Globalisierung von Waren, Kapital und Dienstleistungen zum Vorteil der Exportstarken zu nutzen und gleichzeitig Menschen zu reglementieren. Die Welt ist keine Einbahnstraße mit unterschiedlichen Rechten für unterschiedliche Menschen.
Es ist kein Verdienst in Deutschland geboren worden zu sein. Es ist ein zufälliges Privileg, das wir nicht unter uns aufteilen, sondern mit anderen teilen sollten. Wir werden in Zukunft mehr, viel mehr aufwenden müssen, um die Fluchtursachen von Menschen - Krieg, Unterdrückung, Hunger, Zerstörung der Lebensvoraussetzungen durch Dürre oder Flut - gemeinsam zu bekämpfen und unseren eigenen Anteil daran auf den Prüfstand stellen.
Allen Menschen, die sich sorgen, weil mit den Flüchtlingen andere Lebensstile und Religionen in unser Land kommen, wollen wir sagen, dass es wichtig ist, miteinander zu sprechen statt Angst zu schüren. Es kommt auch auf uns an, ob Vielfalt ein Zugewinn wird, der unser starkes Land schöner machen wird und der uns tagtäglich helfen wird, besser zu verstehen, dass Nächstenliebe in unserer globalisierten Welt nicht mehr an nationale Grenzen gebunden ist.
Wir damalige Bürgerrechtler haben unterschiedliche politische Meinungen. Wir appellieren aber gemeinsam an unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen, an Politik, an die Wirtschaft und an die Medien, dass die noch offenen Fragen der Organisation und Integration der bei uns Schutz suchenden Flüchtlinge nicht, wie das jetzt leider geschieht, zu einem Grund für Abgrenzung werden.
Wir verkennen nicht, dass manche Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge an Grenzen stoßen. Wir verkennen nicht, dass auch in Deutschland Menschen mehr Zuwendung und Hilfe brauchen und sie Ängste äußern. Wir wenden uns allerdings entschieden gegen jede Form von verbaler oder physischer Gewalt und gegen Hasstiraden.
Wir setzen auf die unzähligen Zeichen von Hilfsbereitschaft und Solidarität. Wir appellieren an Politik, Wirtschaft, Medien, die Zivilgesellschaft – an alle Menschen guten Willens - die derzeitigen Herausforderungen als gesamtgesellschaftliches Anliegen anzunehmen.
Europa soll keine Insel werden. Das ist unsere gemeinsame Herausforderung und Verantwortung: "Für ein offenes Land mit freien Menschen."
v.i.S.d.P. Katrin Hattenhauer (Berlin, ehemals Leipzig)
und 46 Erstunterzeichner:
Prof. Dr. Susan Arndt, Bayreuth
Agnes Berkemeier, Leipzig
Stephan Bickhardt, Leipzig
Dr. Martin Böttger, Zwickau
Till Böttcher, Berlin
Frank Eigenfeld, Halle
Tim Eisenlohr, Amrum
Renate Ellmenreich, Joachimsthal
Anke Hansmann, Braunschweig
Michael Heinisch, Berlin
Martin Hartkopp, Berlin
Axel Holicki, Leipzig
Almut Isen, Berlin
Gisela Kallenbach, Leipzig
Ines-Maria Köllner, Leipzig
Oliver Kloss, Leipzig
Dr. Ilko Kowalczuk, Berlin
Rainer Kühn, Leipzig
Uwe Lehmann, Berlin
Katharina Lenski, Jena
Christoph Leucht, Berlin
Heiko Lietz, Güstrow
Kathrin Mahler-Walter, Berlin
Antje Meurers, Dresden
Barbara Morgenroth, Themar
Arnd Morgenroth, Themar
Rainer Müller, Leipzig
Wolfgang Musigmann, Erfurt
Hildigund Neubert, Limlingerode
Dr. Erhart Neubert, Limlingerode
Bernd Oehler, Meißen
Gisela Pohler, Leipzig
Georg Pohler, Leipzig
Ulrike Poppe, Potsdam
Grit Poppe, Potsdam
Lothar Rochau, Halle
Peter Rösch, Berlin
Wolfgang Rüddenklau, Berlin
Corinna Schmidt, Erfurt
Werner Schulz, Berlin
Dr. Rita Sélitrenny, Leipzig
Barbara Sengewald, Erfurt
Matthias Sengewald, Erfurt
Matthias Voigt, Berlin
Reinhard Weißhuhn, Berlin
Christoph Wonneberger, Leipzig