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Der offene Brief an Merkel im Wortlaut

Offener Brief von DDR-Bürgerrechtlern3. November 2015

DDR-Bürgerrechtler unterstützen Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingsdebatte. Die DW veröffentlicht den Brief der 47 Unterzeichner im Wortlaut.

https://p.dw.com/p/1Gt82
Deutschland Angela Merkel Bundeskanzlerin Flüchtling Selfie
Selfie mit der Kanzlerin: Angela Merkel mit einem Flüchtling in BerlinBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,

wir unterstützen Ihre Politik der offenen Grenzen. Wir unterstützen Ihre Flüchtlingspolitik und Ihren Einsatz um der Menschen willen. Mit größtem Respekt sehen wir Ihre feste Haltung zur Aufnahme asylsuchender Flüchtlinge bei uns in Deutschland.

Ein Volk, wie das unsere, das in die Geschichte der Welt eingeschrieben ist als Land von Vertreibung und Ermordung eines Teils seiner Bevölkerung und von Teilen der Bevölkerung seiner Nachbarländer öffnet 70 Jahre nach dem Holocaust seine Grenzen und rettet Menschen aus Not und Tod. Bürgerinnen und Bürger helfen Flüchtlingen. Das ist das Land, in dem wir leben wollen, von dem wir geträumt haben.

Erst 25 Jahre liegt es zurück, dass wir selbst hinter Zäunen, Stacheldraht und Mauern eingesperrt waren. Wir gehörten damals zur Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR und Osteuropa. Wir haben damals viel diskutiert über die Frage "Ausreisen oder Bleiben". Die Flucht zu versuchen, das war damals eine verzweifelte Option für viele hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrter Menschen. Die großen Demonstrationen in Leipzig haben im September 1989 begonnen mit der Forderung nach einem offenen Land mit freien Menschen. Wir können und wollen heute Menschen, die ihre Freiheit suchen, die ihr Leben und das ihrer Familien retten wollen, nicht an unseren Grenzen ertrinken lassen. Wir wollen keine Zäune errichten, die wir für uns selbst vor mehr als 25 Jahren niedergerissen haben.

Wir merken jetzt, dass wir Menschen auf der Welt nicht mehr ganz so einfach wie bisher nach Nationen, in Deutsche/EU-Bürgerinnen und in Fremde unterteilen können. Denn die Welt ist in den letzten 25 Jahren zusammengewachsen, die Menschen sind sich über nationale Grenzen hinweg näher gekommen.

Es ist unlauter, die Globalisierung von Waren, Kapital und Dienstleistungen zum Vorteil der Exportstarken zu nutzen und gleichzeitig Menschen zu reglementieren. Die Welt ist keine Einbahnstraße mit unterschiedlichen Rechten für unterschiedliche Menschen.

Es ist kein Verdienst in Deutschland geboren worden zu sein. Es ist ein zufälliges Privileg, das wir nicht unter uns aufteilen, sondern mit anderen teilen sollten. Wir werden in Zukunft mehr, viel mehr aufwenden müssen, um die Fluchtursachen von Menschen - Krieg, Unterdrückung, Hunger, Zerstörung der Lebensvoraussetzungen durch Dürre oder Flut - gemeinsam zu bekämpfen und unseren eigenen Anteil daran auf den Prüfstand stellen.

Allen Menschen, die sich sorgen, weil mit den Flüchtlingen andere Lebensstile und Religionen in unser Land kommen, wollen wir sagen, dass es wichtig ist, miteinander zu sprechen statt Angst zu schüren. Es kommt auch auf uns an, ob Vielfalt ein Zugewinn wird, der unser starkes Land schöner machen wird und der uns tagtäglich helfen wird, besser zu verstehen, dass Nächstenliebe in unserer globalisierten Welt nicht mehr an nationale Grenzen gebunden ist.

Wir damalige Bürgerrechtler haben unterschiedliche politische Meinungen. Wir appellieren aber gemeinsam an unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen, an Politik, an die Wirtschaft und an die Medien, dass die noch offenen Fragen der Organisation und Integration der bei uns Schutz suchenden Flüchtlinge nicht, wie das jetzt leider geschieht, zu einem Grund für Abgrenzung werden.

Wir verkennen nicht, dass manche Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge an Grenzen stoßen. Wir verkennen nicht, dass auch in Deutschland Menschen mehr Zuwendung und Hilfe brauchen und sie Ängste äußern. Wir wenden uns allerdings entschieden gegen jede Form von verbaler oder physischer Gewalt und gegen Hasstiraden.

Wir setzen auf die unzähligen Zeichen von Hilfsbereitschaft und Solidarität. Wir appellieren an Politik, Wirtschaft, Medien, die Zivilgesellschaft – an alle Menschen guten Willens - die derzeitigen Herausforderungen als gesamtgesellschaftliches Anliegen anzunehmen.

Europa soll keine Insel werden. Das ist unsere gemeinsame Herausforderung und Verantwortung: "Für ein offenes Land mit freien Menschen."

v.i.S.d.P. Katrin Hattenhauer (Berlin, ehemals Leipzig)

und 46 Erstunterzeichner:

Prof. Dr. Susan Arndt, Bayreuth

Agnes Berkemeier, Leipzig

Stephan Bickhardt, Leipzig

Dr. Martin Böttger, Zwickau

Till Böttcher, Berlin

Frank Eigenfeld, Halle

Tim Eisenlohr, Amrum

Renate Ellmenreich, Joachimsthal

Anke Hansmann, Braunschweig

Michael Heinisch, Berlin

Martin Hartkopp, Berlin

Axel Holicki, Leipzig

Almut Isen, Berlin

Gisela Kallenbach, Leipzig

Ines-Maria Köllner, Leipzig

Oliver Kloss, Leipzig

Dr. Ilko Kowalczuk, Berlin

Rainer Kühn, Leipzig

Uwe Lehmann, Berlin

Katharina Lenski, Jena

Christoph Leucht, Berlin

Heiko Lietz, Güstrow

Kathrin Mahler-Walter, Berlin

Antje Meurers, Dresden

Barbara Morgenroth, Themar

Arnd Morgenroth, Themar

Rainer Müller, Leipzig

Wolfgang Musigmann, Erfurt

Hildigund Neubert, Limlingerode

Dr. Erhart Neubert, Limlingerode

Bernd Oehler, Meißen

Gisela Pohler, Leipzig

Georg Pohler, Leipzig

Ulrike Poppe, Potsdam

Grit Poppe, Potsdam

Lothar Rochau, Halle

Peter Rösch, Berlin

Wolfgang Rüddenklau, Berlin

Corinna Schmidt, Erfurt

Werner Schulz, Berlin

Dr. Rita Sélitrenny, Leipzig

Barbara Sengewald, Erfurt

Matthias Sengewald, Erfurt

Matthias Voigt, Berlin

Reinhard Weißhuhn, Berlin

Christoph Wonneberger, Leipzig