Der Preis der Gewalt: Massenflucht in Pakistan
9. Mai 2009Immer mehr Flüchtlinge aus dem Swat-Tal kommen mit nichts in den eilig erweiterten oder neu eingerichteten Lagern an. Allein in den vergangenen zwei Tagen waren es rund 200.000 Menschen. Weitere 300.000 sind nach Angaben der Provinzregierung und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen vom Samstag (09.05.2009) in Bewegung. Sie versuchen unter Lebensgefahr, die unklaren Fronten zu passieren.
Nach Augenzeugenberichten wurden in den Kämpfen bereits Dutzende Einwohner getötet oder verletzt. Allein im Krankenhaus von Mingora handelte es sich bei einem Viertel der 100 Patienten um Opfer der Gefechte, sagte ein Arzt. Das Militär hat eine Ausgangssperre verhängt. Die Taliban haben Straßensperren errichtet, um die Flüchtlinge zurückzuhalten, die sie als menschliche Schutzschilde missbrauchen.
"Was ist das für ein Spiel?"
Akbar Ali und seine Familie haben es geschafft: Sie konnten das umkämpfte Swat-Tal verlassen und sind in einem der provisorischen Flüchtlingslager im Swabi-Distrikt angekommen, der außerhalb der Kampfzone liegt. "Als die Bomben vom Himmel fielen, haben wir in Panik unsere Häuser verlassen. Wir waren eine große Gruppe und sind durch die Straßen gelaufen. Dann schlugen noch mehr Bomben ein und viele von uns sind gestorben."
Amanullah Khan hat das Swat-Tal mit seiner Großfamilie unmittelbar nach Beginn der Großoffensive des pakistanischen Militärs verlassen. Jetzt leben sie alle zusammengepfercht in einem kleinen Zelt der Vereinten Nationen. Amanullah versucht zu verstehen, warum er alles zurücklassen und fliehen musste: "Erst ist die Regierung hart und die Armee muss kämpfen. Dann ziehen sie sich wieder zurück und schließen mit den Taliban einen Friedensvertrag. Und jetzt kämpfen sie wieder. Was ist das für ein Spiel, das da gespielt wird?", fragt Amanullah Khan.
Als er sich direkt an den pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari wendet, nicken die umstehenden Männer zustimmend: "Wir bitten unseren Präsidenten, die Dollar, die er aus den USA bekommt, mit uns zu teilen. Es ist seine Pflicht. Wir haben ein Recht auf das Geld, denn wir haben alles verloren", klagen sie.
Taliban haben Nachbarbezirke infiltriert
Seit vergangenem Sommer lieferten sich pakistanische Taliban und andere militante Gruppen im einst so malerischen Swat-Tal im Nordwesten Pakistans regelmäßig Gefechte mit der pakistanischen Armee. Schließlich sah sich die Regierung zu Beginn dieses Jahres genötigt, einen Friedensvertrag mit den radikalen Islamisten zu schließen. Die Armee zog sich aus dem Swat-Tal zurück und die Taliban durften mit Billigung der Regierung ihre extreme Auslegung der Scharia einführen.
Ihre Waffen legten sie aber nicht wie versprochen nieder, sondern nutzten den Rückzug der Soldaten, um auch die Nachbarbezirke Dir und Buner zu infiltrieren. Sie brannten Schulen nieder, ermordeten Polizisten und Lokalpolitiker, verboten Filme und Musik.
Armee rechtfertigt Schlingerkurs der Regierung
Unmittelbar vor Präsident Zardaris Besuch in Washington Mitte dieser Woche vollzogen Regierung und Militärspitze dann unter großem Druck von außen und innen eine erneute Kehrtwende und entschlossen sich zur Großoffensive. Dabei sind allein bei den Kämpfen am Samstag nach Angaben der Armee mindestens 55 Rebellen getötet worden.
Generalmajor Atthar Abbas, der Sprecher der pakistanischen Armee, erklärt den Schlingerkurs der Regierung gegenüber den Taliban so: "Für die Regierung ist das ein großer Sieg. Die Bevölkerung hat gesehen, dass wir es mit Frieden und Versöhnung versucht haben und der anderen Seite viel Zeit gegeben haben, um die Waffen niederzulegen und den Menschen ein friedliches Leben zu ermöglichen." Das sei aber nicht passiert und die Menschen hätten das wahre Gesicht der Extremisten kennengelernt. Es gehe den Taliban um viel mehr als um die Einführung der islamischen Gesetzgebung, der Scharia, so Abbas.
"Wir werden ihre Anführer jagen"
Insgesamt haben inzwischen rund eine Million Menschen das umkämpfte Gebiet verlassen. Sie sind Flüchtlinge im eigenen Land. Die pakistanische Armee muss sich vor allem aus dem westlichen Ausland heftige Vorwürfe gefallen lassen, die Taliban bisher nur halbherzig bekämpft zu haben und vor allem die afghanischen Taliban heimlich zu unterstützen, um sie im Ernstfall gegen den alten Erzfeind Indien instrumentalisieren zu können.
Aber mit den pakistanischen Taliban, die das eigene Land bedrohen, solle der Kampf jetzt bis zum Ende ausgefochten werden, betont Armeesprecher Abbas. Er geht davon aus, dass sich bis zu 5000 schwer bewaffnete Extremisten im Swat-Tal und in den angrenzenden Distrikten Dir und Buner verschanzt haben. "Wir werden ihre Anführer jagen. Die Anführer sind das Gravitationszentrum jeder Aufstandsbewegung", sagt Abbas. Wenn die Armee die Führung ausschalten könne, werde sich das schnell rentieren.
Die Mehrheit der Menschen in Pakistan befürwortet die Offensive der Armee gegen die Taliban im eigenen Land. Aber sie machen sich auch Sorgen um die Folgen für ihre ohnehin schon zerrissene Gesellschaft. Habibullah Khan aus Swat hat sechs Familienangehörige verloren: "Wir vertrauen Allah. Wenn er es nur will, wird alles wieder gut. Aber unsere Brüder, die dort als Märtyrer sterben, sind Muslime. Wir sind auch Muslime. Warum bekämpfen wir uns gegenseitig?"
Autorin: Sandra Petersmann/ap/dpa
Redaktion: Christina Hebel (ina)