Der sichtbare Islam
15. Oktober 2015Das niedersächsische Örtchen Sumte gilt als beschaulich: ein paar Fachwerkhäuser, Gemüsebeete und Bauernhöfe, rund hundert Einwohner. Doch fast über Nacht hat es das Dorf in die nationalen Medien gebracht. Der Grund: In ein leer stehendes Bürogebäude am Rande der Ortschaft werden Flüchtlinge einziehen - und zwar, aller Voraussicht nach, rund tausend Menschen. Ein Zuwachs um tausend Prozent.
Das behagt nicht jedem. Wie steht es um den Brandschutz, wie um Abwasser- und Müllentsorgung, wollen die Anwohner während einer Bürgerstunde wissen. Andere haben diffusere Sorgen: "Das sind ja alles Muslime, und die hassen uns", so eine Frau im Publikum.
"Die hassen uns"
Misstrauen insbesondere gegenüber den muslimischen Flüchtlingen geht durch alle gesellschaftlichen Schichten, wenn auch in unterschiedlichen Intensitätsgraden. Woher kommen diese Vorbehalte?
Real sei diese Angst nicht begründet, schreibt die Muslima und Publizistin Khola Maryam Hübsch in einem Beitrag für das Internetportal "Qantara". "Angeheizt durch politische Rhetorik, ist sie in erster Linie ein Produkt von Ignoranz und Phantasie." Für sie sind die Muslime vor allem Projektionsfläche nicht gelöster anderer Probleme. "Die Geschichte zeigt, dass die Verbindung gesellschaftlicher Probleme mit der angeblichen Bedrohung durch eine religiöse Minderheit ein häufig angewendetes Konstrukt ist."
Religiöse Forderungen
Tatsächlich hat Deutschland eine Menge ungelöster Probleme. Doch setzt auch ein Teil der Muslime mit seinen Forderungen die Gesellschaft erheblich unter Druck. Bevor er zwei Bestseller zum Thema Integration schrieb, war Heinz Buschkowsky Bürgermeister des Berliner Stadtteils Neukölln.
Der hatte im Jahr 2014 rund 320. 000 Einwohner, 135. 000 davon hatten einen Migrationshintergrund. In so einem Stadtteil, berichtet Buschkowsky, bleiben Probleme nicht aus. So forderten Eltern muslimischer Schüler, Lehrer oder Erzieherinnen dürften keine Schweinefleischprodukte auf ihren Broten haben, weil sie ansonsten bei anschließender Berührung die Kinder verunreinigten. Es gebe weitere Forderungen. "Bei mir in Neukölln gibt es alle zwei Jahre den Vorstoß, den Ruf des Muezzins zu den Gebetszeiten erklingen zu lassen." Im westfälischen Gladbeck ist er bereits Wirklichkeit. Dort ruft seit dem Frühjahr dieses Jahres einmal täglich der Muezzin zum Gebet. "Allahu Akbar" schallt es Tag für Tag, außer an christlichen Feiertagen, über die Dächer der Stadt.
Religiöse Diskretion
Seit mehreren Jahrzehnten hat sich Deutschland nicht zuletzt durch religiöse Diskretion charakterisiert. Wer nicht wollte, brauchte sich mit Religion nicht auseinanderzusetzen. Katholiken und Protestanten trafen sich in der Kirche, kamen aber in aller Regel nicht auf den Gedanken, ihre Überzeugungen anderen Menschen aufdrängen zu wollen. In deutschen Großstädten ging diese Diskretion noch weiter: Hier wussten und wissen sehr viele Menschen von ihren Freunden und Kollegen nicht einmal, welcher Konfession sie sind. Und nicht wenige empfanden und empfinden das als außergewöhnlich entlastend. Der Glaube ist für sie kein großes Thema mehr. So sind 27 Millionen Staatsbürger, ein Drittel der gesamten Einwohner des Landes, konfessionslos.
Insbesondere für sie sind religiöse Symbole im öffentlichen Raum eine Herausforderung. Die Leserforen deutscher Medien zeigen in diesen Tagen, dass der Wille und die Fähigkeit, diese zu meistern, unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Dies gilt insbesondere für den Islam, wie eine vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach erhobene Umfrage ergab. Auf die Frage "Gehört der Islam zu Deutschland" antworteten gut zwei Drittel (63 Prozent) der Befragten mit "Nein". Für 22 Prozent der Befragten gehört der Islam zu Deutschland, 15 Prozent sind unentschieden.
Islam und Pluralismus
Religionswissenschaftlichen Studien zufolge ist Angst gegenüber dem Islam unbegründet. Denn dieser, schreibt der Islamwissenschaftler Olivier Roy, einer der international profiliertesten Forscher zum Thema "Islam in Europa", strebe keine Herrschaft über die anderen Religionen an. Im Gegenteil: Indem der Islam einen anerkannten Status für sich beanspruche, passe er sich den Spielregeln westlicher multikultureller Gesellschaften an. "Wer als Minderheitengruppe mit eigenen Werten anerkannt werden will, gesteht zu, dass es einen Pluralismus von Werten und Glaubensüberzeugungen gibt."
Gerade Maßnahmen zur Integration, empfiehlt Roy, sollten staatliche Institutionen darum gelassen angehen. Weder sollten sie sich nach gemäßigten Autoritäten im Nahen Osten umsehen, um westliche Muslime zu besänftigen, rät Roy. Noch sollten sie Mittel bereitstellen, um einen "zivilen" oder "liberalen" Islam zu fördern. Stattessen empfiehlt er, dem Islam Raum zuzugestehen, ohne aber die eigenen Gesetze oder Grundsätze zu ändern. "Ein echter Pluralismus ist der beste Weg, um Konflikte mit der muslimischen Bevölkerung zu vermeiden, die ihrerseits zwar sehr vielfältig ist, sich aber in eine ghettoisierte Gemeinschaft gepresst fühlen könnte."
Wenn es gelingt, eine Ghettobildung zu vermeiden, bräuchte man sich wegen eines dominanten Islams keine allzu großen Sorgen mehr zu machen, schreibt Roy. Denn der hätte sich genau dadurch, dass er einen Raum neben den bereits bestehenden Religionen fordere, das Prinzip des Pluralismus bereits zu eigen gemacht.
Herausforderungen und Toleranz
Dieser Prozess wird dennoch erhebliche Herausforderungen mit sich bringen, auch für die nicht-islamische Mehrheitsgesellschaft. Sie wird mit der Präsenz des Islams im öffentlichen Raum rechnen müssen. Etwas anderes wäre in einer Einwanderungsgesellschaft undenkbar. "Entscheidend ist", erklärt der Islamwissenschaftler Rauf Ceylan, "dass am Ende Toleranz auf allen Seiten steht, dass man verschiedene kulturelle und religiöse Prägungen aushält."