Der wahre Preis der Lebensmittel
16. September 2020Ganzseitige Anzeigen in Zeitungen, Plakate in öffentlichen Verkehrsmitteln, ein eigens kreierter Internetauftritt: Monatelang scheute der schwedische Hafer- und Sojatrunkhersteller Oatly keine Kosten und Mühen, um in Deutschland eine öffentlichkeitswirksame Idee in die Tat umzusetzen und einen Auftritt im Parlament zu bekommen. "Hey Bundestag!", man müsse reden, so war die Kampagne überschrieben, mit der am Ende gut 57.000 Unterschriften für eine Petition zur Einführung einer CO2-Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel eingesammelt wurden.
Im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigen sich die Abgeordneten regelmäßig mit Bitten und Beschwerden aus der Bevölkerung. Das müssen sie, weil es so im Grundgesetz steht. Doch nur wenn eine Petition mehr als 50.000 Unterstützer findet und von öffentlichem Interesse ist, kann der Beschwerdeführer sein Anliegen persönlich im Ausschuss vortragen und mit den Abgeordneten diskutieren.
Umweltbelastung in den Fokus nehmen
"Den wenigsten Menschen ist bewusst, dass das Lebensmittelsystem für 25 Prozent aller globalen Emissionen verantwortlich ist", argumentierte der Deutschlandchef von Oatly, Thomas Goj, vor dem Ausschuss. "Das sind mehr CO2-Emissionen, als alle Züge, Flugzeuge, Autos und Schiffe der Welt zusammen verursachen." Die Wahl der Lebensmittel habe einen erheblichen Einfluss auf den CO2-Fußabdruck eines Landes.
Derzeit würden sich allerdings nur neun Prozent aller Deutschen gut über die unterschiedlichen Klimakosten von Lebensmitteln informiert fühlen, das habe eine aktuelle Studie ergeben. "77 Prozent der Verbraucher wünschen sich von uns, der Lebensmittelindustrie, mehr Informationen zur Umweltbelastung der Produkte", betonte Goj.
Eine Stunde Fragen und Antworten
Oatly weist den CO2-Fußabdruck seiner Produkte seit eineinhalb Jahren zum Teil auf den Verpackungen aus. Bei der Herstellung des Haferdrinks werden 0,29 Kilogramm CO2 oder ähnliche Treibhausgase pro Kilogramm emittiert. Bei der "Barista-Edition", die Rapsöl enthält und sich deswegen besser aufschäumen und für Milchkaffee nutzen lässt, sind es 0,42 Kilogramm. Kuhmilch, das direkte Konkurrenzprodukt, hat hingegen einen CO2-Fußabdruck von 0,94 Kilogramm und schneidet in der Klimabilanz somit deutlich schlechter ab.
Im Wettbewerb um eine in Sachen Klimawandel zunehmend sensibilisierte Kundschaft wäre das ein klarer Kaufanreiz für die pflanzlichen Drinks. Diese wirtschaftlichen Interessen sind auch den Parlamentariern klar. Ihn störe, dass die Petition Teil einer Werbekampagne für das eigene Produkt sei, kritisierte der FDP-Abgeordnete Manfred Todtenhausen, der eine Kennzeichnung von Lebensmitteln aber unterstützt. "Ich habe ein bisschen Sympathie für ihre Aktion, denn der Grundgedanke ist durchaus richtig", sagte er im Ausschuss.
Auch der Nestle-Konzern springt auf den Zug auf
Tatsächlich steht Oatly nicht allein da mit seiner Forderung nach einem Klimasiegel. Immer mehr Unternehmen unterstützen den Vorstoß, darunter beispielsweise Frosta, ein Hersteller von Tiefkühlkost, der Wurstproduzent Rügenwalder Mühle und neuerdings auch der Nestlé-Konzern. Der Klimawandel mit seinen Folgen wie Dürren und Ernteausfällen beeinflusst ihr Geschäftsmodell. Rohstoffe werden teurer und sind schwerer zu beschaffen.
Nestlé hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu wirtschaften. Das kommt bei den Kunden gut an. Der Konzern reagiert zudem auf die steigende Nachfrage nach pflanzlichen Produkten und hat deren Entwicklung priorisiert. Die Rügenwalder Mühle macht Schätzungen zufolge bereits mehr Umsatz mit vegetarischen und veganen Produkten als mit klassischer Wurst.
Nicht nur die Treibhausgase schaden
Die Abgeordneten im Petitionsausschuss halten allerdings wenig davon, Lebensmittel allein mit einem Klima-Siegel auszuzeichnen. Die Konsumenten müssten vielmehr über den gesamten Ressourcenbedarf informiert werden, also auch darüber, wie hoch die Wasserbelastung und der Ausstoß von Luftschadstoffen bei der Produktion ist. Im Bundeslandwirtschaftsministerium wird derzeit geprüft, ob die Klimabilanz in eine umfassendere "Nachhaltigkeitskennzeichnung" aufgenommen werden kann.
Noch einen Schritt weiter gehen Wissenschaftler an der Universität Augsburg. Dort wurde schon 2018 in einer Studie errechnet, welche Kosten die Landwirtschaft verursacht, die weder die Hersteller noch die Konsumenten bislang bezahlen. Beispielsweise durch die Massentierhaltung, die überdüngte Böden und verseuchtes Trinkwasser zur Folge haben, das dann teuer aufbereitet werden muss. Oder die Konsequenzen für das Gesundheitssystem, die der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung mit sich bringt.
Experiment in einem Berliner Discounter
Für den Lebensmittelriesen Rewe schrieben die Augsburger Wissenschaftler ihre Studie zusammen mit Kollegen der Universität Greifswald fort und errechneten für acht Produkte die über die Lieferketten anfallenden Auswirkungen von Stickstoff, Klimagasen, Energie und Landnutzung auf den Verkaufspreis. Jeweils für die konventionelle Herstellung und für die Bio-Produktion. Die errechneten Preise sind derzeit in einer Berliner Filiale des Discounters Penny, der zu Rewe gehört, zu sehen.
Die acht untersuchten Produkte sind hier jeweils zweifach ausgeschildert. So stehen auf dem Preisschild für die H-Milch neben dem Verkaufspreis von 79 Cent, auch die 'wahren Kosten' von 1,75 Euro und beim Bio-Hackfleisch in der 250-Gramm-Packung neben dem Verkaufspreis von 2,25 Euro auch die 'wahren Kosten' von 5,09 Euro. Am deutlichsten müsste sich der Preis für konventionell erzeugtes gemischtes Hackfleisch verändern: Von 2,79 Euro für 500 Gramm auf 7,62 Euro.
Die Deutschen bezahlen nicht viel für ihr Essen
Aber würden die Kunden das auch bezahlen? Bei einem Besuch in dem Discounter zeigt sich, dass die acht Preisschilder unter den rund 3500 Produkten kaum auffallen. Darauf hingewiesen, schütteln die meisten Kunden ungläubig den Kopf. Den fast dreifachen Preis für das Hackfleisch bezahlen? Auf keinen Fall. Er sei ja durchaus bereit, mehr für Lebensmittel zu bezahlen, wenn das der Umwelt dienen würde, sagt ein Mann mittleren Alters. "Aber nur, wenn mein Arbeitslohn auch steigen würde, sonst geht das nicht."
Tatsächlich achten die Kunden von Discountern sehr auf niedrige Preise. Bei Rewe ist noch nicht klar, ob das Experiment mit den doppelten Preisen auch auf andere Filialen ausgeweitet werden soll. Immerhin räumt nun erstmals ein Discounter ein, Teil des Problems zu sein: Lebensmittel sind in Deutschland zu billig und im gnadenlosen Wettbewerb der Handelsketten teilweise zur Ramschware verkommen.
Ob eine Kennzeichnung mit einem Umweltlabel daran etwas ändern würde? Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass viele Kunden dann zumindest mehr über die Lebensmittelproduktion nachdenken und nicht mehr nur gedankenlos in die Regale greifen würden.