Des Nazis alte Feindin
9. November 2020Am 27. Januar 2018, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, scrollt eine rüstige Rentnerin in ihrer Wohnung im Nordschwarzwald durch ihre Kontaktliste auf Facebook. Sie ist wütend, sie will handeln, aber ihr Computer arbeitet langsam, vielleicht, weil so viele Dokumente und Fotos auf dem Desktop gespeichert sind. Nach und nach öffnet sich eine neue Seite, eine Facebook-Gruppe, die Dame tippt den Namen ein. Sie schickt, so erzählt sie heute, eine Einladung raus an all ihre Kontakte. Später werden es Tausende sein.
Starker Glaube an Demokratie
Im Leben von Anna Ohnweiler, 70, gab es immer wieder Momente, in denen sie "das Handeln gepackt" hat. In denen sie, ehemals Lehrerin und Leiterin einer sozialen Einrichtung in Altensteig bei Nagold, nicht anders konnte, als loszulegen, ihre Stimme zu heben. Briefe und Petitionen hat sie verfasst, wie viele, kann sie heute nicht zählen. An Helmut Kohl, als er noch Bundeskanzler war. An die Kanzlerin, als sie Familienministerin war. Nicht immer erhielt sie eine Antwort, aber das ist nicht so wichtig, sagt sie. Die mutige Frau, seit 2015 ist sie in Rente, streicht sich durch die kurzen Haare, wählt ihre Worte mit Bedacht. "Wer in der Demokratie einschläft, wacht in der Diktatur wieder auf", nennt sie ihr Motto laut und deutlich.
Sie weiß, wovon sie spricht. Ihre Jugend hat sie im neostalinistischen Rumänien verbracht. Kritik und Widerstand waren im Kommunismus nicht denkbar, sagt sie, im demokratischen Deutschland ja Gott sei Dank schon. Und so folgt sie ihrem Motto, als sie die Facebook-Gruppe "Omas gegen Rechts" gründet. Und doch ist etwas anders. Vielleicht zum ersten Mal mischt sich ihr starker Glaube an die Demokratie mit Angst.
"Omas" und "Opas" rebellieren
Nagold, Baden-Württemberg, eine Vier-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock. Vom Balkon aus geht der Blick auf den Schwarzwald. Bis auf das Ticken einer Uhr ist es still im Wohnzimmer. Die Zeit hier scheint stehen geblieben zu sein, die Einrichtung ist noch aus den 1980ern. Möbel aus Eichenholz, Teppiche mit großen Ornamenten, an den Fenstern bunte Glasbilder, durch die das Sonnenlicht bricht. Im Regal stehen Bücher, die den Holocaust thematisieren, neben Bildbänden über die Region Siebenbürgen in Rumänien. An den Wänden Fotokollagen, die ihre beiden erwachsenen Kinder zeigen, und die Enkel, fünf, acht und 14 Jahre alt. "Omi, ich li(e)be dich", steht auf einer Postkarte.
Zwischen Familienfotos, in einer Nische mit Tisch und Deckchen, hat Ohnweiler ihre Rolle als Oma politisiert. Die Initiative "Omas gegen Rechts" gab es bereits in Österreich. In Deutschland entsteht sie mit eben jener Facebook-Gruppe, die heute mehr als 3000 Mitglieder hat. 2019 gründet Ohnweiler mit anderen "Omas" einen Verein. Auch "Opas" sind dabei, ungefähr ein Fünftel der Bewegung ist männlich.
Die Wut, die viele "Omas" und "Opas" antreibt, entsteht bei Ohnweiler an jenem Tag im Januar 2018. Auf Twitter liest sie den Beitrag eines Salzburger Mitglieds der rechtsextremen Identitären Bewegung. Der Mann schimpft über Rentnerinnen, die gegen die österreichische rechtspopulistische Partei FPÖ protestieren. "Wenn man schon zu alt ist, um für die Gesellschaft nützlich zu sein und das Stricken vor lauter Emanzipation nicht gelernt hat", erinnert sich Ohnweiler an den ungefähren Wortlaut.
Die Empörung bebt noch heute in ihrer Stimme. "Unwertes Leben?", fragt sie mit aufgerissenen Augen und spricht von den Morden der Nationalsozialisten an Alten und Kranken. Überhaupt sei die NS-Sprache mit der AfD in die Politik zurückgekehrt, sagt sie. Es sind genau solche Momente, in denen sie gar nicht mehr ruhig wirkt, in denen sie anfängt, aufzuzählen, was rechte Sprache mit der Demokratie macht, wie sie die Gesellschaft spaltet. Fast täglich, so sagt sie, verbringt sie drei bis vier Stunden im Netz, um nach Beispielen zu suchen, die sie in der Facebook-Gruppe der "Omas" teilt.
"Protest aus Haltung"
Sie trägt einen Ansteck-Button der "Omas gegen Rechts", bastelt Schilder, geht auf Mahnwachen, wenn irgendwo in Deutschland wieder einmal Nazis marschieren. Sie schwärmt von der "Unteilbar"-Demo in Dresden im August 2019, dem ersten großen Zusammenkommen der "Omas" aus ganz Deutschland. Aus allen Ecken seien "Omas" gekommen, sagt sie: "Wir hatten das Gefühl, etwas zu bewegen". Tatsächlich ist das Bündnis heute in mehr als 70 Städten aktiv. Die "Omas" und "Opas" setzen sich gegen das Vergessen ein, organisieren Infostände vor Wahlen, lassen Stolpersteine verlegen. Und sie solidarisieren sich mit "Fridays for Future".
Denn es geht ihnen um die Zukunft der Enkel. Nicht alle sind "Omas" und "Opas" im eigentlichen Sinne, einige sind dafür auch zu jung. Aber das ist nicht wichtig, ihr Protest ist ein Protest aus Haltung, sagt Ohnweiler. Denn immerhin verbindet die Bewegung eins: Viele ihrer Anhänger gehören zur Nachkriegsgeneration, kennen die Schrecken des Nationalsozialismus aus den Erzählungen der Eltern.
Ohnweilers Eltern werden nach dem Krieg ins sowjetische Arbeitslager deportiert. Ihre Familie gehört zur deutschen Minderheit in der Region Siebenbürgen. Viele der Rumäniendeutschen hätten unter Hitler dem Deutschen Reich gedient. "Als der Krieg vorbei war, hat man sich an ihnen gerächt", sagt sie. Enteignung, Repression, Diskriminierung. Sie weiß, was sie diese Familiengeschichte gelehrt hat: "Nie wieder Krieg, nie wieder Ausgrenzung, nie wieder Zerstörung".
Geprägt hat sie auch die Unfreiheit der Diktatur in Rumänen unter Nicolae Ceaușescu. Ein Foto zeigt die junge Frau mit ihrer Schulklasse: Jungen und Mädchen in einer Reihe. Fast habe sie ihre Abi-Zulassung nicht bekommen, erzählt Ohnweiler und lacht. Weil sie die anderen Mädchen angespornt hatte, Mini-Röcke zu tragen. Erinnerungen an ihr jüngeres Ich, eine rebellische Frauenrechtlerin, hat sie in Gedichten festgehalten. "Ihr Rock ist zu kurz, ihr Haar zu lang, ihr Blick ist zu kühn, zu stolz ihr Gang, das eckt an", heißt es da. Ein anderes Foto zeigt das Mädchen neben ihrer Oma: "Eine selbstbewusste Frau, sie hat mich sehr geprägt".
Als ihr Mann nach Deutschland flüchtet, lässt man sie in Rumänien nicht mehr im Schuldienst arbeiten. 1979 gelingt ihr die Ausreise. In Nagold arbeitet sie für das christliche Jugenddorfwerk, gründet später eine Abendschule.
Mit "Omas gegen Rechts" will sich Anna Ohnweiler auch als Rentnerin weiter in den politischen Diskurs in Deutschland einmischen. Die Initiative sei selbstverständlich überparteilich, betont sie immer wieder. So steht es in der Satzung, darauf legen die "Omas" großen Wert.
Die Angst um die Demokratie, einmal ist sie ihr in den Briefkasten gefolgt. Anfang Februar 2019 findet sie dort eine Postkarte mit Drohungen. Hassbotschaften, die an dieser Stelle nicht zitiert werden sollen, so bösartig richten sich die Worte gegen ihr Engagement als "Oma". Der Staatsschutz wird eingeschaltet, der Absender nicht ermittelt. Ihre Kinder reagieren besorgt. Ohnweiler lächelt, nein, so etwas kann sie nicht bremsen. Auch die unzähligen Hass-Mails bringen sie nicht aus der Ruhe. "Aus meiner Sicht ist die Angst ein schlechter Berater", sagt sie. "Wenn sie sich so breit gemacht hat, dass alle schweigen, dann sehe ich unsere Demokratie echt in Gefahr."