Desaster Großbauprojekte
9. Januar 2013Der Neubau der Elbphilharmonie in Hamburg, der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs oder der neue Berliner Großflughafen sind nur die prominentesten Beispiele. Auf deutschen Großbaustellen kommt es immer wieder zu Verzögerungen und Verteuerungen, die den Eindruck entstehen lassen, die Deutschen könnten es einfach nicht.
Tatsächlich scheint generell etwas nicht zu stimmen. Das zeigt alleine die Tatsache, dass es inzwischen eine ganze Heerschar von Experten gibt, die sich mit nichts anderem beschäftigen, als mit der Analyse von Pannen bei Großbauprojekten. Einer von Ihnen ist Thomas Heilfort. Der Lehrbeauftragte an der Technischen Universität Dresden arbeitet seit 17 Jahren als Sachverständiger für so genannte "Bau-Ablaufstörungen". Heilfort lässt keinen Zweifel: "Ein öffentliches Bauprojekt muss scheitern, weil die Abläufe von Großprojekten an Systemfehlern kranken". Heilfort nennt zu geringe Zeitpuffer, um auf Unvorhergesehenes reagieren zu können und die vielen Ebenen in der Baustellenhierarchie.
Dem stimmen viele Bauexperten zu - auch der seit über zwanzig Jahren in der Branche tätige Architekt Horst Keller und der Betriebswirt Friedhelm Lütz. Sie haben mit ihrer Unternehmung “Bauen mit Werten“ sogar ein eigenes Geschäftsfeld entwickelt, um bei großen privaten Projekten nicht die Fehler der staatlichen Bauherren zu wiederholen. Beide sagen: "Der Hauptfehler liegt an mangelnder Teamarbeit und an Bedingungen, die kaum jemand einhalten kann."
Wahnsinn mit System
Immer wieder wird die Frage gestellt, wer an den Fehlentwicklungen Schuld hat und dafür die Verantwortung tragen muss. Einzig an unfähigen Politikern liegt es offenbar nicht. Heilfort, Keller und Lütz beschreiben eine Art Teufelskreis, in dem sich Schuld und Verantwortung auf viele Schultern verteilen. Alles beginne mit viel zu ehrgeizigen Zeit- und Kostenplänen. Baugesetze und Vorschriften wirkten wie eine zusätzliche Zwangsjacke. Öffentliche Auftraggeber müssen zum Beispiel alle Arbeiten an einem Projekt ausschreiben.
Das wichtigste Kriterium sei dabei der Preis. Weil die Konkurrenz in der Baubranche groß ist und viele Betriebe nach Aufträgen jagen müssen, unterbieten sie sich gegenseitig. Firmen nennen Preise, von denen sie selbst wissen, dass sie diese nicht halten können. Das sei für einen Handwerksbetrieb sogar risikolos, berichtet Thomas Heilfort. "Die meisten Ausschreibungen sind lückenhaft".
Weil das so sei, würden die Teilnehmer an Ausschreibungen genau diese Fehler schon im Vorfeld ihres Angebotes ausfindig machen, mit den Lücken kalkulieren und später, nach Erhalt des Auftrags, finanzielle Nachforderungen stellen. Alles ganz legal. Das Verfahren hat sogar eine offizielle Bezeichnung. "Claim Management" nennt es sich. Das Team Keller/Lütz berichtet, dass Betriebe, die den Zuschlag für bestimmte Einzelarbeiten erhalten haben, zum Zeitpunkt des Baubeginns oft noch nicht einmal eine genaue Ausführungsplanung in den Händen halten. Das bedeute, dass zum Beispiel ein Ausbauunternehmer vertraglich auf Preise und Termine festgelegt werde, obwohl noch keine fertigen Pläne vorliegen. Trotzdem würden Handwerker gedrängt, ihre Leistungen wenigstens in Teilbereichen zu beginnen. Die konkreten Fragen, zum Beispiel welche Leitungen in einer Decke zu berücksichtigen sind, würden erst später mit einer "baubegleitenden Ausführungsplanung" geklärt.
Für große Infrastrukturprojekte werde die Ausführungsplanung sogar ganz den Unternehmen selbst überlassen, um Geld zu sparen und Verantwortung zu delegieren. Dieser Gestaltungsspielraum biete Raum für viele Missverständnisse und Fehlplanungen, geben die Bauexperten an und belegen das mit einem Beispiel.
Erst loslegen, dann nachdenken
Änderungswünsche und Fehlplanungen führen oft dazu, dass speziell gefertigte Produkte nicht mehr verwendet werden können oder erbrachte Bauleistungen wieder zu entfernen sind, so Thomas Heilfort.
Viele Probleme könnte man vermeiden, wenn die Bauarbeiten erst beginnen würden, nachdem die Ausführungsplanung abgeschlossen ist. Sinnvoll erscheint den Experten eine Vorbesprechung mit Handwerksbetrieben, die jeweils auf ihrem Gebiet als die Besten gelten. Und zwar bevor die Ausschreibungsphase beginnt.
Das deutsche Vergaberecht aber verbietet in Fällen öffentlicher Projekte solche Kontakte zwischen Auftraggeber und potenziellem Auftragnehmer. "Keine Baufirma darf einen Informationsvorsprung vor einer Ausschreibung haben", sagt Friedhelm Lütz, sonst könnte sie ihren Anspruch auf Teilnahme am Ausschreibungsverfahren verlieren. Neidische Konkurrenten klagen tatsächlich beinahe regelmäßig, wegen angeblicher oder tatsächlicher Benachteiligungen in Ausschreibungen. Alleine solche Klagen können bereits vor dem ersten Spatenstich eine Baumaßnahme immens verzögern.
Kontrolle kommt spät
Selbstverständlich gibt es auf einer deutschen Großbaustelle Kontrolleure und eine Bauaufsicht. In so genannten "Bautagesberichten" werden täglich alle Arbeiten eingetragen und abgezeichnet. Allerdings fehle es bei allen Projekten mit Fehlentwicklungen an einem Termincontroller, der alle Maßnahmen koordiniert und bei Pannen eingreift, beschreibt der Bauexperten Heilfort seine Erfahrungen.
Das Team Lütz und Keller ergänzt: "Die einzelnen Unternehmen auf einer Baustelle interessiert tatsächlich nur ihr Auftrag und ihr Vertrag". Alle anderen Arbeiten seien ihnen egal. Komme es dann auch nur an einer Stelle zu einem unvorhergesehenen Problem, baue sich schrittweise eine Lawine an Verschiebungen auf. "Wenn es jetzt eigenständige und eigenverantwortliche Teams auf den Baustellen geben würde, dann könnten viele Probleme gemeinsam schnell gelöst werden und es würden auch Kontrollmaßnahmen überflüssig", sagt dazu das Team Lütz und Keller.
Schädlich sei das starre Hierarchiedenken. Natürlich seien alle Stellen bemüht, bei Problemfällen die Situation zu retten, so die Bauexperten, aber es werde zu lange versucht, Pannen auf der untersten Arbeitsebene zu regeln und erst dann Alarm an Vorgesetzte gegeben, wenn gar nichts mehr geht. "Jeder versucht, das Gesicht zu wahren und Fehler zu vermeiden".
Die behördliche Bauaufsicht trete auch erst auf, nachdem eine Baumaßnahme beendet ist. Dann verlangt die Aufsichtsinstanz für die verbauten Produkte Zulassungszeugnisse. Die haben in der Regel ein Verfallsdatum. Hat sich ein Gesamtbau verzögert, seien diese Zulassungen zum Zeitpunkt der Bauabnahme im schlimmsten Fall aber nicht mehr gültig. "Dann muss alles wieder aufgerissen und neu verbaut werden", wissen die Praktiker.
Verantwortung der Politik
Der Ruf nach dem Rücktritt vermeintlich verantwortlicher Politiker geht nach Auffassung aller befragten Bauexperten an der Wirklichkeit vorbei. In Aufsichtsräten, in denen Politiker über ein Bauprojekt wachen sollen, hörten sie als Allerletzte, was konkret auf der Baustelle los ist. Außerdem mangele es der Politik an Sachkenntnis, um tatsächlich einen so komplexen Prozess wie eine Großbaustelle ernsthaft überwachen zu können. Es fehlten an entscheidenden Stellen kompetente Experten. "Politiker lieben Modelle, Plakate, Eröffnungszeremonien und die eigene Profilierung", analysiert Thomas Heilfort und meint das gar nicht böse. Das liege in der Eigenart der Politik.
Friedhelm Lütz bemängelt allerdings, dass niemand wirklich befürchten müsse, zur Verantwortung gezogen zu werden. Prozesse zögen sich so lange hin, dass ein Politiker oft nicht mehr im Amt ist, wenn alles aus dem Ruder läuft. "Die Politik muss dringend die Missstände des bisherigen Systems abschaffen" lautet die Forderung des Teams Lütz und Keller. Dass dies möglich sei, zeigten die Länder Australien und Neuseeland. Dort würde man zwar auch Ausschreibungen vornehmen. Aber man sei darin weniger an Einzelunternehmen als vielmehr an Teams interessiert, die sich im funktionierenden Zusammenspiel schon lange bewiesen haben.