Deutsche Medikamente für Syrien
9. September 2013Christoph Bonsmann geht durch die hohen Regalreihen in der Lagerhalle des Medikamentenhilfswerks Action Medeor im westdeutschen Ort Tönisvorst. Vor der Metallbox, in der in weißen Schachteln das Medikament "Atropin" aufbewahrt wird, bleibt der Apotheker stehen. "Wir haben nur noch 41 Packungen", sagt ihm sein Mitarbeiter. Aber es sei schon eine Sonderbestellung gemacht worden.
"Atropin"-Tropfen kenne man vom Augenarzt, erklärt Bonsmann. Damit werden vor einer Untersuchung die Pupillen erweitert. Doch intravenös verabreicht wirke das Medikament als Gegenmittel bei Vergiftungen, etwa durch Insektizide oder durch Nervengas. "Wir haben hier 170 Medikamente auf Lager. Atropin wird normalerweise am wenigsten nachgefragt. Das Einsatzgebiet ist eben zu beschränkt“, so Bonsmann. Doch als aus Syrien nach dem 21. August plötzlich in großen Mengen "Atropin"-Ampullen nachgefragt wurden, habe es bei ihm gleich "Klick" gemacht.
Giftgas-Gegenmittel in 24 Stunden nach Syrien geliefert
Christoph Bonsmann und seine Kollegen von Action Medeor hatten von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es sich beim Angriff am 21. August in Syrien um einen Giftgaseinsatz gehandelt habe. Warum sonst hätten syrische Ärzte einen regelrechten Notruf nach Deutschland geschickt, fragen sie sich. Export-Bereichsleiter Dirk Angemeer berichtet: "Da stand dann zu später Stunde der Herr vom deutsch-syrischen Verein bei uns in der Tür und hat unseren gesamten 'Atropin'-Vorrat bestellt." Die Mitarbeiter von Action Medeor haben daraufhin Sonderschichten gefahren, um das lebensrettende Giftgas-Gegenmittel binnen 24 Stunden nach Syrien liefern zu können, so Dirk Angemeer.
Auch weiterhin werden tonnenweise Medikamente für das Bürgerkriegsland versandfertig gemacht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat lange Bedarfslisten aus Damaskus nach Deutschland geschickt.
In die sieben angeforderten "Emergency Health Kits" wird dabei eine komplette Grundausstattung für provisorische Arztstationen und Feldlazarette gepackt: Schmerzmittel wie Paracetamol und Ibuprofen - in Tablettenform, aber auch als Saft, um auch Kinder medizinisch behandeln zu können - und vor allem Antibiotika, um Infektionen zu bekämpfen. "Denn eine Infektion, die behandelt ganz harmlos ist, kann unbehandelt lebensgefährlich werden", erklärt Apotheker Bonsmann.
Auch Verbandsmaterial, Jodtinktur und sogar Karteikarten für die Behandlungsdaten kommen in die hüfthohen Pakete, die bis zum Rand vollgepackt werden und auf zwei Paletten stehend nur noch mit dem Gabelstapler bewegt werden können.
Ein Plastikeimer für sauberes Trinkwasser
Sogar ein einfacher Plastikeimer wird verstaut. Darin kann man Wasser auffangen und desinfizieren. Denn eine der Hauptursachen für Erkrankungen sei Wasser, das nicht sauber ist, so Bonsmann. Durchfall könne vor allem bei Kleinkindern zum Tode führen. In die "Emergency Health Kits" werden deshalb auch Wasserentkeimungstabletten und Durchfallmedikamente gepackt.
Eine Tonne Medikamente und medizinisches Material pro Kit soll in Syrien 10.000 Menschen drei Monate lang Hilfe leisten können, so die Kalkulation von Action Medeor.
Die finanzielle Kalkulation des Hilfswerks funktioniert allerdings nur mit Hilfe von Spenden aus der Bevölkerung und mit Sachspenden der Industrie. Insgesamt habe man mit der nächsten Lieferung Waren in Wert von 1,2 Millionen Euro aus dem nordrhein-westfälischen Tönisvorst nach Syrien auf den Weg gebracht. "Würde man das ganz normal in der Apotheke kaufen, hätte es zehnmal so viel gekostet", sagt Dirk Angemeer. Action Medeor nutze den Preisvorteil bei Ausschreibungen. Doch so große Mengen an Medikamenten, wie sie jetzt in Syrien benötigt werden, habe auch Action Medeor nicht vorrätig.
Spenden nicht so hoch wie erhofft
Trotz der zahlreichen Medienberichte über den Bürgerkrieg in Syrien decke sich das allgemeine Interesse der Öffentlichkeit an diesem Thema jedoch nicht mit der Höhe der Spenden, die jetzt bei den Hilfsorganisationen eingingen, kritisiert Christoph Bonsmann.
Bei seinen Syrien-Reisen vor dem Bürgerkrieg habe er auch einige pharmazeutische Betriebe besichtigen können. Der Standard sei damals sehr hoch gewesen, Syrien habe sogar Arzneimittel in die Nachbarländer exportiert, so Bonsmann. Doch nun seien viele Fabriken zerstört und die Ärzte auf Medikamente aus dem Ausland angewiesen.
Gefährlicher Transport, geheime OPs
Noch in dieser Woche sollen deshalb die Hilfsgüter geliefert werden. Mit dem Flugzeug gehen die tonnenschweren Pakete in der Regel in die Türkei nach Istanbul und von dort aus weiter nach Gazi Antep, in der Nähe der türkisch-syrischen Grenze.
"Ab da wird es lebensgefährlich“, schildert Dirk Angemeer von Action Medeor. Selbst Lastwagen mit Medikamenten würden in Syrien beschossen und auch Ärzte riskierten bei Einsätzen im Bürgerkriegsland ihr Leben. Eine der nächsten Medikamenten-Lieferungen aus Tönisvorst geht an eine Intensivstation in Aleppo. Sie wird heimlich in einem Kellergeschoss betrieben.