"Namibia hat Präzedenzcharakter"
31. Juli 2017DW: Werden künftig auch andere frühere deutsche Kolonien Entschädigungen von Deutschland fordern?
Jürgen Zimmerer: Das ist schwer vorherzusagen, weil es von verschiedenen Faktoren abhängt. Viele ehemalige Kolonien beobachten sowohl die Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia als auch die Klage von Herero und Nama-Vertretern gegen die Bundesregierung in New York sehr genau. Auch die britische Regierung hat zugegeben, dass sie den Entwicklungen sehr genau folgt. Aber ob ehemalige Kolonien Entschädigungen fordern werden, hängt sehr viel von den Umständen in den jeweiligen Ländern ab. Namibia ist ein spezifischer Fall.
Warum ist Namibia besonders?
Das hat zum Einen damit zu tun, dass es einen Genozid gegeben hat. Zum Anderen hat es auch mit Namibias Geschichte nach der deutschen Kolonialherrschaft zu tun. Namibia wurde unter ein Mandat des Völkerbundes gestellt und von Südafrika verwaltet. Es unterlag daher bis 1990 dem Apartheidsystem. Die Dekolonisation fand also sehr spät statt. Zudem haben wir die Konstellation, dass die frühere Befreiungsbewegung SWAPO die Unabhängigkeit mit erkämpft hatte und seitdem regiert. Diese Befreiungsbewegung wird als von Ovambo dominiert wahrgenommen, während sich viele Herero und Nama ausgegrenzt fühlen. Sie fühlen sich in dieser Frage nicht von der eigenen Regierung vertreten. Das ist auch der Grund, warum Herero und Nama in New York gegen Deutschland klagen. Sie klagen zwar zum Einen auf Wiedergutmachungen, aber genauso auf Beteiligung an den Verhandlungen. In Tansania, Kamerun und Togo sehe ich das so nicht.
Hat es in Tansania, Togo und Kamerun deutsche Kolonialverbrechen gegeben, die Entschädigungen rechtfertigen würden?
Es hat Massaker gegeben. Die Eroberung der vier ehemaligen deutschen Kolonien war brutal. Heute würde man sagen: von Kriegsverbrechen begleitet. In Tansania herrschte von 1905-1907 der Maji-Maji Krieg, dem bis zu 300.000 Menschen zum Opfer fielen. Auch in Kamerun gab es Massaker und diverse Kolonialskandale, die oftmals auf extreme Brutalität zurückzuführen waren, ähnlich in Togo. In Kamerun ist besonders der Fall Manga Bell sehr bekannt. Manga Bell, der spätere König der Douala, hatte sich in Berlin über das Unrechtsregime des deutschen Gouverneurs Jesko von Puttkamer beschwert. Er war im Grunde ein Advokat der Rechte seiner Leute und wurde dafür im August 1914 hingerichtet. Es gab überall Vergehen, die man heute als schwere Menschenrechtsverletzungen bezeichnen würde. Ob sich daraus rechtlich Wiedergutmachungsansprüche ableiten lassen und ob jemand deswegen Wiedergutmachungen beanspruchen will, ist eine andere Frage.
Was halten Sie von dem Vorstoß aus Tansania, wo es im Februar eine Diskussion gab, ob man von Deutschland Entschädigungen fordern sollte?
Ich vermute, dass man in Tansania erst einmal beobachten wird, wie der Fall Namibia ausgeht. Diese Verhandlungen und auch der Prozess haben Präzedenzcharakter und viele schauen sehr genau hin: Ehemalige Kolonisierte wie ehemalige Kolonisatoren. Das Beispiel Tansania ist interessant, weil es lange Zeit keine Forderungen nach Entschädigungen gegeben hat. Im Frühjahr wurden sie dann vorgetragen, wahrscheinlich als Reflex auf die Ereignisse in Namibia. Auch Namibias Regierungen hatten gegenüber Deutschland lange keine Forderungen erhoben. Das änderte sich, als sie unter innenpolitischen Druck gerieten, weil die Herero und Nama erfolgreich argumentieren konnten, dass es Entschädigungen geben müsste. Ich vermute, dass in Tansania etwas ähnliches passiert: Manche Politiker nehmen sich des Themas an, und die Frage nach dem Umgang mit der Kolonialgeschichte wird nun in eine innenpolitische Debatte eingebracht. Es ist schwer zu prognostizieren, welche Erfolgsaussichten das haben wird und welche Politiker sich das zu eigen machen oder zurückweisen werden.
Wird in den früheren deutschen Kolonien über die Ereignisse in der Kolonialzeit diskutiert? Wissen Menschen, was damals vorgefallen ist?
Ja, darüber wird diskutiert. Den Menschen, die historisch interessiert sind, ist das Thema durchaus bewusst. Es gibt auch noch bauliche Überreste, es gibt andere Erinnerungsorte, an denen sich die Kolonialgeschichte festmachen lässt. Ob jeder einzelne im Detail darüber Bescheid weiß, steht auf einem anderen Blatt. Wahrscheinlich ist das nicht der Fall. Das ist ähnlich wie in Deutschland: Viele Menschen haben nur eine vage Vorstellung davon, dass Deutschland Kolonialmacht war. Sie wissen auch nicht, wie brutal der deutsche Kolonialismus war. Wir haben in Hamburg Doktoranden aus Tansania und Kamerun in unseren Projekten. Bald werden auch Künstlerinnen und Künstler aus Namibia dazu stoßen. Sie freuen sich, dass man dieses Thema aufgreift und sie die Gelegenheit bekommen, mit uns dazu zu arbeiten. Sie berichten, dass das Thema in ihren Heimatländern sehr wichtig ist, aber die Ressourcen fehlen, um die Kolonialgeschichte richtig zu erforschen. Auch das ist ein Resultat des europäischen Kolonialismus: Auch die Bildungsinstitutionen und die Chancen, die Geschichte aufzuarbeiten, sind nach wie vor sehr ungleich verteilt.
Jürgen Zimmerer ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg. Er gilt als einer der führenden deutschen Kolonialismusforscher.
Das Interview führte Daniel Pelz.