Auswandererhaus erzählt Migrationsschicksale
9. Juli 2021"Sie kommen in Scharen, sie weigern sich, unsere Sprache zu lernen. Sie kommen aus autoritären Gesellschaften, sind ungebildet, schotten sich ab. (...) Bald werden sie uns zahlenmäßig überlegen sein ... Auch unsere Regierung gerät dadurch ins Wanken."
Man könnte meinen, dass die rechtspopulistische und ausländerfeindliche Partei AFD (Alternative für Deutschland) mit diesen Worten über Flüchtlinge und Asylbewerber schimpft - doch mitnichten. Wer hier so massiv als Integrationsverweigerer beschimpft wird, sind Deutsche - und das harte Urteil über sie fällte im 18. Jahrhundert kein Geringerer als Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der USA, 1776 mitverantwortlich für dieses Bekenntnis in der Unabhängigkeitserklärung: "... dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit".
Auf in die Neue Welt
Genau dieses Streben nach Glück und einem besseren Leben hat über die Jahrhunderte unzählige Menschen dazu bewegt, ihre Heimat zu verlassen. Sechs Millionen Deutsche zog es allein in die Neue Welt, viele Osteuropäer schlugen den gleichen Weg ein. Ihre Geschichten werden im Deutschen Auswandererhaus hautnah erzählt, so Museumsdirektorin Simone Blaschka gegenüber der DW.
Als das Haus 2005 in Bremerhaven am Ufer der Weser seine Pforten öffnete, ging es den Machern vor allem um die Auswanderer: Denn an diesem historischen Ort gingen zwischen 1830 und 1974 rund 7,2 Millionen Menschen an Bord eines Schiffes - im Gepäck die Hoffnung auf ein besseres Leben in Übersee.
"Die Bevölkerung in Deutschland hat sich im 19. Jahrhundert fast verdoppelt, da kann man sich vorstellen, was auf dem Arbeitsmarkt los war", erzählt Simone Blaschka. "Auf dem Land waren die Böden zwar gut, aber die Flächen, die die Leute hatten, waren viel zu klein, um die Familien zu ernähren. Die Menschen sahen keine Zukunft für sich und ihre Kinder und beschlossen auszuwandern."
Die Überfahrt auf einem Segelschiff kostete ungefähr das Jahresgehalt eines Handwerkers. Um sich das leisten zu können, mussten die Familien all ihr Hab und Gut verkaufen. Ein großer Schritt in eine ungewisse Zukunft in der Fremde - und doch nahmen die Menschen das Wagnis auf sich.
Auf den Spuren der Auswanderer
Im Deutschen Auswandererhaus können Besucher dank originalgetreuer Rekonstruktionen auf den Spuren dieser frühen Wirtschaftsflüchtlinge wandeln. Man steht mit den Menschen zwischen all ihren Habseligkeiten am Kai und hört das Rauschen der Wellen und die Rufe der Hafenarbeiter. Man besteigt die Holzplanken im knarrenden Zwischendeck eines Auswandererschiffes und landet schließlich in der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island in New York, wo die Ankömmlinge aus Europa einer strengen Befragung unterzogen wurden, bevor sie amerikanischen Boden betreten durften.
Private Erinnerungsstücke, Filme, Audiostationen, Fotos und Briefe von Ausgewanderten erwecken Familiengeschichten zum Leben; zum Beispiel die von Martha Hüner, die noch nie aus Geestemünde herausgekommen ist und dann, im November 1923, am Kai auf die Abreise wartet. Als Familienerbstück hat ihr Vater dem Mädchen eine Pferdebürste in den Koffer gepackt, als einzige greifbare Erinnerung an die alte Heimat.
Willkommen in Deutschland?
Doch es geht nicht nur um Auswanderer aus Deutschland und Osteuropa im Migrationsmuseum, sondern auch um über 300 Jahre Einwanderungsgeschichte: "Willkommen in Deutschland" ist das Motto des zweiten Teils der Ausstellung. Das galt im 17. Jahrhundert für die Hugenotten, die in ihrer französischen Heimat wegen ihrer Religion verfolgt wurden, bis hin zu den sogenannten Gastarbeitern aus der Türkei, Griechenland, Spanien und Italien, die in den 1960er-Jahren von der jungen Bundesrepublik angeworben wurden. Man trifft auf die Geschichten russischer Spätaussiedler und jugoslawischer Bürgerkriegsflüchtlinge, von Chilenen, die vor der Diktatur flohen, auf Vietnamesen in der DDR.
Auch das Schicksal unzähliger Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren aus Syrien, Afghanistan und vielen afrikanischen Ländern einreisten und auf Bleiberecht hoffen, ist ein großes Thema - samt der sozialen und gesellschaftlichen Konflikte um Migration, die seit einigen Jahren die bundesdeutsche Gesellschaft spalten.
"Deutschland hat sich lange, lange Zeit selbst nicht als Einwanderungsland verstanden", betont Direktorin Simone Blaschka. "Doch Einwanderung ist Teil unser nationalen Geschichte." So wie man durch die Kontaktaufnahme zu deutschen Clubs in den USA an persönliche Gegenstände der Auswanderer kam, haben sich die Museumsmacher auch um Erinnerungsstücke der Einwanderer bemüht.
"Unsere Schatzkammer" nennt Blaschka diesen Fundus diverser Objekte, hinter denen so viele individuelle Schicksale stehen. Zum Beispiel den Brief eines heimwehkranken kleinen Jungen, der auf dem Kindermarkt in Schwaben als Knecht an einen Bauern vermittelt wurde - wie viele Kinder von Bergbauern im 19. Jahrhundert. Oder den Arbeitsvertrag einer Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in ihrer Firma mit ihrem Namen und nicht als Nummer genannt werden wollte, weil das in ihr schmerzliche Erinnerungen an die Nazi-Zeit weckte - als Menschen Nummern eintätowiert wurden.
Bildungsauftrag angenommen
Kürzlich hat das Migrationsmuseum seine Ausstellungsräume noch mal aufgestockt und Ende Juni 2021 mit neuen Highlights eröffnet. An der Fassade prangen die Porträts von 33 Einwanderinnen und Einwanderern. Und drinnen hat man sogenannte digitale Denkräume entwickelt. "Wir haben ganz klar einen Bildungsauftrag", sagt Simone Blaschka. Ziel ist es, dass Besucherinnen und Besucher sich von vorgefertigten Denkmustern verabschieden und Fragen rund um das Thema Migration stellen. Zum Beispiel: "Wie wollen wir miteinander leben und wie wollen wir dieses Land gemeinsam gestalten?" Und: "Wie viele Menschen in meinem Bekannten- oder Freundeskreis haben selbst eine Migrationsgeschichte?"
"Wir möchten zeigen, wie vielfältig und dehnbar der Begriff Migration ist", so die Museumsdirektorin. Die meisten Besucher würden dann wohl schnell feststellen, dass es auch unter ihren eigenen Vorfahren Einwanderer, Flüchtlinge oder Vertriebene gab." Eine Datenbank hilft bei der Suche nach den Familienwurzeln. Und vielleicht findet sich unter den Nachkommen der deutschen Auswanderer, die von Benjamin Franklin einst als "pfälzische Bauerntrampel" tituliert wurden, ja ein Anverwandter. Sie haben sich übrigens mittlerweile bestens in die US-amerikanische Gesellschaft integriert.