Deutsches Jobwunder mit Schattenseiten
30. November 2016Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (siehe Artikelbild) kann wieder einmal beruhigt ihre Hände in den Schoß legen und nichts tun. Dank der guten Konjunktur hält sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter auf historisch niedrigem Niveau. Die Arbeitslosenzahl sank im November nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) um 8000 auf 2,53 Millionen. Die Arbeitslosenquote ging auf 5,7 Prozent zurück. Damit hat Deutschland eine der niedrigsten Erwerbslosenquoten in der Europäischen Union
Und: Noch nie gab es so viele Jobs in Deutschland wie heute. Im Oktober 2016 waren nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) rund 43,7 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Gegenüber Oktober 2015 nahm die Zahl der Erwerbstätigen noch einmal um 359.000 Personen oder 0,8 Prozent zu. Seit Jahren steht der deutsche Arbeitsmarkt im europäischen Vergleich so glänzend da, dass im Ausland schon länger vom deutschen Jobwunder die Rede ist.
Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Seit der Jahrtausendwende haben deutsche Gewerkschaften rund eine Dekade lang mehr Wert auf den Erhalt von Arbeitsplätzen gelegt als auf höhere Löhne und Gehälter. So wurden deutsche Exportprodukte im internationalen Vergleich immer wettbewerbsfähiger. Zudem hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der "Agenda 2010" eine Reform des Sozialsystems und Arbeitsmarktes auf den Weg gebracht, die unter anderem eine Kürzung staatlicher Leistungen für Empfänger von Arbeitslosengeld bedeutete und mehr Eigenverantwortung forderte. Der Arbeitsmarkt wurde liberalisiert - zum Entsetzen seiner sozialdemokratischen Parteigenossen.
Gut durch die Krise gekommen
So brauchte Schröders Nachfolgerin Angela Merkel nur abzuwarten, bis sich die ersten arbeitsmarktpolitischen Erfolge einstellten. Allerdings muss man auch ihrer Regierung bescheinigen, dass sie auf die globale Finanzkrise in der Jahren 2008 und 2009 mit klugen Maßnahmen reagiert hat. Im Herbst 2008 erschütterte die Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers die Weltwirtschaft. Die Unternehmen bekamen keine Kredite mehr, der deutschen Exportwirtschaft brachen die Aufträge weg - bei Nutzfahrzeugherstellern zum Beispiel um fast zwei Drittel. Im zweiten Quartal 2009 lag die Wirtschaftsleistung um 7,4 Prozent niedriger als im Vorjahr - der schärfte Einbruch der Wirtschaft seit 1948.
Ökonomen sagten damals einen rasanten Anstieg der Arbeitslosen voraus - doch der blieb aus. Denn statt Mitarbeiter zu entlassen, nutzten viele Unternehmen das Instrument der Kurzarbeit, das hervorragend geeignet ist, eine Flaute für eine gewisse Zeit zu überbrücken - und das die Bundesregierung ausdrücklich gefördert hat mit der finanziellen Unterstützung der Kurzarbeiter durch die Bundesanstalt für Arbeit.
Viele Unternehmer klagten schon damals über den zunehmenden Mangel an qualifizierten Fachkräften. Diese wollte man in der Krise nicht entlassen, sondern lieber eine Zeit lang durchfüttern, um sie nicht für immer zu verlieren. Zudem waren die meisten exportorientierten Unternehmen zuversichtlich, dass der weltweite Schock nicht lange anhalten und deutsche Exportprodukte schon bald wieder gefragt sein würden.
Kurze Durststrecke
So kam es auch - unter anderem, weil sich die Schwellenländer als Stütze der Weltkonjunktur erwiesen. Die Zentralbanken der Industrienationen hatten als Gegenmittel zur Finanzkrise die Zinsen teilweise bis auf Null gesenkt, mit der Folge, dass sich riesige renditesuchende Kapitalströme über die Schwellenländer ergossen und dort einen Investitionsboom auslösten. Und Investitionsgüter wie Maschinen und andere Fabrikausrüstungen kauft man gerne bei den Deutschen.
Zudem hatte die große Koalition unter Angela Merkel die steuerliche Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen eingeführt, um die größte Rezession der Nachkriegszeit zu überwinden. Das Steuergeschenk wurde zum Instrument im Kampf gegen die Schwarzarbeit deklariert, doch hat es nie die Schwarzarbeit gesenkt, haben Wissenschaftler nachgewiesen. Immerhin aber hat es für eine gewisse Handwerker- und Dienstleistungskonjunktur gesorgt.
Alles in allem hat die globale Finanzkrise das Wachstum bei den Erwerbstätigenzahlen in Deutschland zwar kurzfristig unterbrochen, der langfristige Trend des deutschen Jobwunders aber blieb erhalten - und hat sich sogar selbst verstärkt. Denn sinkende Arbeitslosenzahlen und steigende Jobzahlen stimmen zuversichtlich, nehmen die Angst vor der Erwerbslosigkeit, lassen die Arbeitnehmer eher Geld ausgeben, um sich mal etwas zu gönnen. Erstmals seit Jahrzehnten hat der private Konsum einen wesentlichen Anteil am Aufschwung in Deutschland.
Heile Welt nur vorgetäuscht
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. So beklagt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dass die schönen Arbeitsmarktzahlen eine heile Welt vortäuschen würden, die es so nicht gibt. Ende September hat der DGB eine Untersuchung über die "Arbeit auf Abruf" vorgelegt. Immer mehr Arbeitgeber, vor allem in den Einzelhandelsketten, zwingen ihren Beschäftigten einen Vertrag zur "kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit " auf. Das bedeutet, dass sie vom Arbeitgeber nur eine Mindeststundenzahl zugesichert bekommen. Gleichzeitig müssen sie sich jedoch dafür bereithalten, jederzeit mehr zu arbeiten - und können sich deshalb keinen Zweitjob suchen.
Solche Arbeitsverhältnisse sind mehr als prekär - und keine Randerscheinung. "Rund 13 Prozent der Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten nutzen diese Arbeitszeitform und mindestens fünf Prozent der Beschäftigten sind davon betroffen", schreibt der DGB - es geht also um mindestens 2,2 Millionen Menschen. Überall, wo die Auslastung stark schwankt, wird Arbeit auf Abruf offenbar für Firmen attraktiver: in der Gastronomie etwa, dem Tourismus oder auch der Pflege.
Ministerin Nahles indes sieht keinen Handlungsbedarf. Die niedrigen Arbeitslosenzahlen sind letztlich erkauft. Erkauft dadurch, dass die Politik einen Graubereich im Niedriglohnsektor offen hält, in dem Menschen in Jobs zweiter Klasse arbeiten. Auf sie werden betriebswirtschaftliche Risiken abgewälzt.