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"Deutschland bleibt bettlägerig"

19. September 2005

Die Mehrheit der ausländischen Zeitungen wertet den Ausgang der Wahlen in Deutschland als schwere Niederlage für Angela Merkel. DW-WORLD mit internationalen Pressestimmen zur Bundestagswahl.

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"El País" (Madrid): Wahl macht große Koalition wahrscheinlicher

"Die Deutschen neigen eher nach links. Sie scheinen einer gemäßigten Reform im Stil der Agenda 2010 den Vorzug zu geben vor einer radikalen Änderung des Sozialsystems, wie sie die Rechte anstrebte. Der Wahlausgang macht eine große Koalition wahrscheinlicher. Zwar erwies sich ein solches Experiment in den 60er Jahren als Fehlschlag. Aber in letzter Zeit war eine große Koalition praktisch

schon in Kraft, da die Christdemokraten den Bundesrat kontrollieren. Daher scheint es nahe liegend zu sein, ein solches Bündnis in der Regierung zu institutionalisieren. Für die Europäische Union kommt es darauf an, dass die stärkste Wirtschaftsmacht eine Regierung erhält, die die große Lokomotive wieder in Gang setzt."

"De Standaard" (Brüssel): Eine Niederlage für Angela Merkel

"Auch wenn die Wähler gestern Rot-Grün ein Ende bereitet haben, haben sie nicht deutlich gesagt, was sie eigentlich wollen. Denn der Urnengang macht eine eindeutige Alternative, die noch vor einigen Wochen festzustehen schien, unmöglich. Eine schwarz-gelbe Koalition aus Christdemokraten und Liberalen hat keine Mehrheit. Deshalb müssen diese Parteien jetzt auf die Suche nach einem dritten Partner gehen. Die Wahl bedeutet - mehr als für Gerhard Schröder - eine bittere Niederlage für die Partei der Kanzlerkandidatin Angela Merkel und ihren bayerischen Mitstreiter Edmund Stoiber. (...) Die wenig inspirierende Chefin der deutschen Christdemokraten konnte in dem siebenwöchigen Wahlkampf den deutschen Wähler in keinem Augenblick für eine positive Alternative der Union erwärmen. Deshalb wurde sie von den Wählern abgestraft."

"The Guardian" (London): In Berlin droht Lähmung

"Es ist gut möglich, dass der beinahe unentschiedene Ausgang zu einer großen Koalition der beiden größten Parteien führt - und das bedeutet Stillstand statt Reformen (...) Angela Merkel ist zwar viel mit Margaret Thatcher verglichen worden, aber 'Angie' hat weder das Charisma der britischen 'Eisernen Lady' an den Tag gelegt noch deren Art radikaler Politik, die nötig wäre, um Deutschland aus dem Trübsinn herauszuholen, in dem das Land in den vergangenen sieben Jahren gesteckt hat. (...) Die Wahl wurde bestimmt durch tiefen Pessimismus, gewaltige Ernüchterung über die großen Parteien und durch unsichere Wähler, die zwar die Notwendigkeit von Reformen begriffen, aber deren Auswirkungen fürchteten. Es wird noch viel Geschachere geben, bis das außerordentliche Ergebnis verdaut ist. Die Deutschen wollen wohl Reformen. Jetzt aber droht Lähmung, weil die Nerven sie im Stich gelassen haben."

"Corriere della Sera" (Rom): Die Ängste haben gewonnen

"Es ist das passiert, was sich keine der deutschen Parteien gewünscht und was alle Regierungen in Europa befürchtet haben: In Deutschland haben die sich kreuzenden Ängste vor dem wirtschaftlichen Verfall und dem Verlust des Sozialstaates gewonnen, mit dem Resultat, dass keine der beiden den Wählern vorgeschlagenen Koalitionen über die nötigen Zahlen verfügt, um eine Regierung zu bilden. (...) Zwischen denen, die nicht wirklich gewonnen haben, und denen, die nicht wirklich verloren haben, werden es am Ende Deutschland und ganz Europa sein, die dafür bezahlen müssen."

"Tages-Anzeiger" (Zürich): Genialer Wahlkämpfer Schröder

"Der geniale Wahlkämpfer Schröder ist abgewählt worden: Er wird trotzdem in die Geschichte eingehen als Mann, der den Wähleranteil seiner Partei selbst nach Verschleißjahren in der Regierung einigermaßen sichern konnte. Die jetzt drohende große Koalition wird die Bürger von den notwendigen Reformen überzeugen müssen. Eine solche Politik verlangt Geradlinigkeit und Volksnähe. Schröder fehlt die Geradlinigkeit, Merkel die Volksnähe."

"Wall Street Journal" (New York): Der "kranke Mann Europas" bleibt bettlägerig

"Es war ein schlechtes Omen, als Angela Merkel, die Kandidatin der konservativen CDU, den Rolling-Stones-Song 'Angie' zu ihrem Wahlkampflied wählte. In Wirklichkeit ist es ein Lied über ein Scheitern. 'Alle Träume, die uns so viel bedeuteten, scheinen sich in Rauch aufzulösen', heißt es in dem Lied - und das ist ziemlich genau das, was der CDU bei der Wahl gestern widerfuhr, als der Sozialdemokrat Gerhard Schröder, der in den vergangenen sieben Jahren nach Art eines deutschen Bill Clinton Kanzler war, ein bemerkenswertes Comeback schaffte. Das verworrene Ergebnis, bei dem keine der größeren Parteien eine stabile Mehrheit zustande bringen kann, bedeutet, dass Deutschland in der nächsten Zeit seinen schwerfälligen Sozialstaat nicht entschlossen reformieren wird, der zu einer Arbeitslosenrate von elf Prozent und einem Null-Wachstum beigetragen hat. Das wird nicht gut für die Welt sein. Deutschland, die drittgrößte Wirtschaft der Welt, macht 30 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU aus. Der 'kranke Mann Europas' wird wahrscheinlich noch einige Zeit bettlägerig bleiben."

"Haaretz" (Tel Aviv): "Die Israelis gähnen nur noch"

"Ganz gleich wie die Zusammensetzung der neuen Koalition aussehen wird, aus israelischer und jüdischer Sicht haben die Ergebnisse keine große Bedeutung. Denn was ist schon der Unterschied zwischen 'besonderen' Beziehungen und Beziehungen, die ein 'kostbares Gut' sind? (...) Die Kanzler kommen und gehen und die Israelis, die sich schon an große Erklärungen gewöhnt haben, gähnen nur noch. Das 'Besondere' ist zur Norm geworden, die Erklärungen zu Klischees, die großen Worte sind keine Schlagzeilen mehr wert. (...) Die Kanzler in Deutschland können sich abwechseln, aber die Politik Israel und den Juden in der Welt gegenüber bleibt gleich. Alles ist selbstverständlich. Langweilig. Und gerade das ist im Grunde das Interessante." (stl)