Deutschland, Land der Verschwörungstheorien
3. September 2020Die Veranstalter sind schier aus dem Häuschen, bei jeder Demonstration laufen mehr Menschen mit. Dass auch immer viele Neonazis dabei sind, geschenkt, die Mehrheit der Demonstranten sei schließlich nicht rechtsextrem. Das seien einfach besorgte Bürger, deren Sorgen die Politik endlich ernst nehmen müsse. Die Stimmung bei den Demonstrationen wird immer aggressiver, es herrscht die blanke Wut wegen der Maßnahmen der Regierung. Verschwörungstheorien machen die Runde.
Wenn Journalisten bei den Demonstrationen auftauchen, schallen ihnen "Lügenpresse"-Sprechchöre entgegen. Die Demonstranten skandieren "Merkel muss weg", Politiker sind "Volksverräter" und werden in Häftlingskleidung gezeigt. Die Politiker selbst reagieren hilflos. "Politik muss wieder mehr zuhören, erklären und um Vertrauen ringen", heißt es oft, der Dialog müsse gesucht werden. Wenn sie es dann tatsächlich mal versuchen, werden sie aufs Übelste beschimpft. Vor allem Anhänger einer Partei unterstützen die Demonstrationen und marschieren auch gerne mit – die der AfD.
Geschichte wiederholt sich nicht? Bei Demonstrationen in Deutschland schon. Damals Pegida, heute Corona, das Muster ist erschreckend ähnlich. Ende 2014 formierte sich die Pegida-Bewegung als Protest gegen die deutsche Einwanderungspolitik, sechs Jahre später sind es die Gegner der Corona-Politik der Bundesregierung.
Auch heute, in Zeiten einer weltweiten Pandemie, sucht die Bundesregierung und ein großer Teil der Gesellschaft die Antwort auf die Frage, was viele der Demonstranten antreibt, wie sie da hineingeraten konnten und vor allem: wie man sie wieder zurückholt?
Immer mehr Deutsche glauben an Verschwörungserzählungen
Pia Lamberty ist nicht wirklich überrascht, als sie die Bilder vom Wochenende aus Berlin sieht. War ja alles schon vorher da und nicht neu: Antisemitismus, Verschwörungsideologie, Demokratiefeindlichkeit und die Präsenz von Rechtsextremen.
Die Sozialpsychologin aus Mainz befürchtet, dass es bei der gesellschaftlichen Reaktion wieder zu einem "Pegida-Moment" kommt. "Bereits im Vorfeld der Demonstration hieß es, dass diese von Rechtsextremen 'unterwandert' werden würde. Das verkennt allerdings, dass die Veranstaltungen von Anfang an offen nach rechts waren." Lamberty forscht seit Jahren zu Verschwörungstheorien und hat ein Buch zum Thema in seiner ganzen Bandbreite geschrieben: "Fake Facts – wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen."
Ironischerweise bestimmen die konspirativen Gedankengänge auch permanent ihr Leben, weil sie als Expertin gefragt ist. "Lange wurde das Thema ja eher belächelt", sagt sie, "es gab zu wenig empirische Kenntnisse dazu, warum Menschen an Verschwörungen glauben, diese Ideologie aber schon immer auch gefährlich war."
Gefährlich, weil sich unterschiedlichste Gruppen mit demselben Feindbild vereinen – Bürger mit existenziellen Sorgen, unpolitische Späthippies, Impfgegner und Rechtsextreme. Aktuell glaubt sogar jeder vierte Deutsche an eine Verschwörungserzählung zu Corona.
Corona-Leugner fühlen sich als Widerstandskämpfer
"Krankheitsausbrüche waren schon immer ein Beschleuniger für Verschwörungserzählungen", erklärt Lamberty, "man hat nicht nur eine Situation, die einen Kontrollverlust erzeugt, sondern auch einen 'unsichtbaren Feind', das Virus."
In solchen Lagen sucht das Gehirn - so erklären es Wissenschaftler - nach einfachen Erklärungen und Mustern. Bill Gates zu beschuldigen ist insofern wesentlich einfacher als die Komplexität des Virus nachzuvollziehen. Wenn dann noch Gleichgesinnte gefunden werden, die einen bestärken, ist die Kontrolle wieder da. "Die Menschen können sich als angebliche Widerstandskämpfer inszenieren und sich damit selbst aufwerten", so Lamberty.
Und wie sollen die Medien über solche Demonstrationen berichten? Wenn die besorgten Bürger, die bei den Protesten lautstark nach Freiheit und Meinungsfreiheit schreien, auf Interviewanfragen von Journalisten nicht reagieren? Nicht mit einer freundlichen Absage, nicht mal mit einer unfreundlichen Absage, sondern gar nicht?
"Für Medien ist das oft eine Herausforderung", warnt Pia Lamberty, "man sollte vorsichtig dabei sein, die Narrative der Verschwörungsideologen einfach wiederzugeben. Aus der Forschung weiß man, dass die Fehlinformation länger haften bleibt als die Korrektur."
Verschwörungstheorien jetzt sogar Studieninhalt
Dafür verantwortlich, dass man in Deutschland jetzt sogar Corona-Verschwörungstheorien studieren kann, ist ausgerechnet einer der bekanntesten Faktenverdreher selbst: Wolfgang Wodarg, Arzt, ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter und Bezugsquelle vieler Verschwörungstheoretiker.
Als Andreas Petrik Wodargs zweifelhafte Covid-19-Erklärvideos zu Gesicht bekommt, denkt sich der Professor aus Halle, dass er dringend dagegen etwas tun muss. Seitdem lernen seine Studenten an der Martin-Luther-Universität in drei Seminaren, Verschwörungstheorien zu widerlegen.
"Es gilt zunächst, die Basis der Freundschaft, die persönliche Anerkennung zu bewahren und Vertrauen herzustellen", beschreibt Petrik den Drahtseilakt im Umgang mit Corona-Leugnern, "dann kann man über das gemeinsame Sichten von Quellen eventuell etwas weiter kommen. Aber es ist harte Arbeit, wie etwa der Umgang mit fundamentalistischen Gläubigen."
Sachliche Korrekturen helfen nur bei wenigen Verschwörungstheoretikern
Der Politikwissenschaftler kann dabei aus dem Nähkästchen plaudern. Er selbst hätte fast einen guten Freund verloren, der ihm wegen Corona fast die Freundschaft gekündigt hätte – eine Erfahrung, welche die Deutschen schon während der Flüchtlingskrise machten. "Ich wollte ihn ständig widerlegen, dabei hilft sachliche Korrektur nur bei sehr wenigen, weil sie ihren Glauben aufrecht erhalten müssen für ihr Selbstwertgefühl."
Minderwertigkeitskomplexe, gleichzeitig ein hohes Geltungsbedürfnis und eine geringe Stressresistenz, gemischt mit Misstrauen gegenüber der Regierung, Zukunftsunsicherheit und dem Kontrollverlust – fertig ist der perfekte Cocktail, um an eine gefakete Mondlandung 1969, ein 9/11-Komplott oder eine Corona-Lüge zu glauben.
Ist dann ein Zurück in die Realität aussichtslos? Mitnichten. Andreas Petrik hat schon dutzende Male mit seinen Studenten durchgespielt, wie dann die Ansprache an den Freund lauten muss: "Wenn du wirklich glaubst, eine kleine Elite von Mächtigen arbeitet eng zusammen und nur daran, dich und mich zu unterdrücken – wieso weißt ausgerechnet du davon und ich nicht? Und wie soll es in der heutigen Zeit der Whistleblower, trojanischen Pferde und massiven Sicherheitslücken auch in den staatlichen Medien überhaupt gelingen, solche Pläne geheim zuhalten?"