Deutschland: Spurensuche im "Atlantis der Nordsee"
13. Juni 2024Im Januar 1362 zerstört eine gewaltige Sturmflut große Teile der nordfriesische Küste. Bei der ersten "Grote Mandränke" schlagen die Wellen mehr als zwei Meter über die Deichkronen. Dutzende Deiche brechen, die Siedlung Rungholt geht zusammen mit sieben anderen Gemeinden im nordfriesischen Wattenmeer unter.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde jenes Rungholt zu einem mystischen Ort, zu Nordfrieslands "Atlantis der Nordsee". Laut der Mythen soll Rungholt reich wie Rom gewesen sein, der Untergang sei eine Strafe Gottes für lasterhaftes Leben, Blasphemie und Hochmut.
Anfang des 20. Jahrhunderts fanden Archäologen bereits Spuren von dem versunkenen Ort wieder. Vor einem Jahr entdeckten Forschende dann auch die Umrisse einer hochmittelalterlichen Kirche in der Wattlandschaft. Einst maß das Gotteshaus 40 mal 15 Meter und bot vielen Gläubigen Platz.
Sturmfluten und absinkende Sedimente
Wo heute die Nordsee ist, war einst das europäische Festland mit den britischen Inseln verbunden. Durch den steigenden Meeresspiegel, Sturmfluten und absinkende Sedimente hat sich die Küstenlinie an der Nordsee immer wieder dramatisch verändert. Die Menschen waren gezwungen, immer weiter vor dem Meer zurückweichen.
Kein Jahrhundert verging ohne katastrophale Überschwemmungen, tausende Menschen ertranken im Laufe der Zeit in den Fluten. Wo einst fruchtbares Weideland war, ragen heute nur noch einige Inseln aus der unberechenbaren Nordsee.
Siedlungsspuren im Schlamm
Nur etwa einen halben Meter unterhalb der Wattoberfläche wechselt die Farbe des schlammigen Untergrunds vom typischen Grau zu einem roten Ton. Dabei soll es sich um das Fundament der einstigen Kirche handeln.
Das Team versucht, trotz nur wenig verbliebenen Materials ein vollständiges Bild von der Siedlungslandschaft zu bekommen, erklärt Geophysiker Dennis Wilken von der Uni Kiel. "Man kratzt hier die letzten Informationen aus dem Boden, die man noch haben kann - im wahrsten Sinne des Wortes."
Für die Archäologen ist das Watt, diese Mischung aus Sand und Schlick, vor allem wegen seiner Fähigkeit zu konservieren interessant. "Wir sehen hier einen Ausschnitt von einer mittelalterlichen Kulturlandschaft, die sozusagen eingefroren ist", so Bente Sven Majchczack von der Kieler Christian-Albrechts-Universität.
Im Gegensatz dazu seien Kulturlandschaften auf dem heutigen Festland über die Jahrhunderte häufig verändert worden. "Im Watt haben wir sozusagen ein eingefrorenes Foto", so Majchczack.
Das Team untersucht ein mehr als zehn Quadratkilometer großes Areal im Watt. Seit dem vergangenen Jahr wurden dort mit Hilfe geophysikalischer Messungen Dutzende mittelalterliche Wohnhügel gefunden, sogenannte Warften, wie sie noch heute auf Halligen existieren. Aber auch systematische Entwässerungssysteme, ein Deich sowie ein Hafen wurden entdeckt.
Wie groß war die mittelalterliche Siedlung?
Nach der verheerenden Sturmflut im Januar 1362 berichtete der Chronist Anton Heimreich von 21 gebrochenen Deichen an der nordfriesischen Küste. 100.000 Menschen sollen ums Leben gekommen sein. Allerdings ist diese sehr hohe Zahl wahrscheinlich übertrieben.
"Die Vorstellung, dass das ein Ort mit 2000 Einwohnern oder mehr gewesen ist wie in einer mittelalterlichen Stadt, das ist einfach Quatsch", so Archäologe Majchczack. Stattdessen habe es sich um Wohnhügel in einer Moorlandschaft gehandelt. Bisherige Funde legten die Vermutung nahe, dass dort schätzungsweise rund 1000 Menschen lebten.
"Das Moor wurde abgetragen, entwässert und eine landwirtschaftliche Nutzfläche daraus gemacht." Die entdeckte Kirche war wahrscheinlich der Mittelpunkt des Siedlungsgebietes.
Lebendiges Handelszentrum
Auch wenn es vermutlich keinen Stadtkern gab, stand die Siedlung doch im regen Austausch mit Reisenden und Händlern aus weitentfernten Gegenden. Denn im Watt wurden nicht nur einheimische Sachen gefunden, sondern auch Gegenstände aus der Ferne.
"Wir haben kleine Gewichte und Waagen gefunden. Das heißt, hier wurde Handel betrieben. Wir bekommen allmählich eine Idee von der Dimension", erklärt Archäologin Ruth Blankenfeldt vom Leibniz Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie.
Zwar zerstörte die Sturmflut von 1362 einen Großteil von Rungholt, aber der Ort verschwand nicht auf einmal im Meer. Vielmehr zogen sich die Menschen schrittweise aus der Siedlung zurück.
"Wir kennen das ganz genau von späteren Sturmfluten. Solche Sachen sind immer eine schrittweise Aufgabe, ein schrittweiser Rückzug", so Majchczack. In manchen Bereichen sei es den Rungholtern gelungen, Deichlücken nach der verheerenden Flut wieder zu schließen, in anderen jedoch nicht.
Teilweise haben die Bewohner selbst zum Untergang mit beigetragen. Sedimentproben belegen, dass das Land durch den Torfabbau tiefer gelegt wurde. "Und Sturmfluten so ein leichteres Spiel hatten", so Geographin Hanna Hadler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.