Deutschlands Pläne zur Raketenabwehr
30. März 2022Tausende Raketen ließ die radikalislamische Hamas im letzten Mai auf Israel herabregnen. Die allermeisten wurden noch in der Luft zerstört. Israels Raketenabwehrsystem, der sogenannte "Iron Dome", bewies seine Leistungsfähigkeit.
Jetzt, wo sprichwörtlich vor der Haustür der NATO in der Ukraine Raketen einschlagen, denken auch deutsche Behörden über die Einführung eines solchen Systems nach. Einen entsprechenden Bericht der "Bild am Sonntag" bestätigte Bundeskanzler Olaf Scholz im ARD-Fernsehen: "Das gehört ganz sicher zu den Dingen, die wir beraten, aus gutem Grund", sagte der SPD-Politiker am Sonntag auf die Frage, ob ein Schutzschirm gegen Raketenangriffe wie in Israel über das Land gespannt werden soll. "Wir müssen uns alle darauf vorbereiten, dass wir einen Nachbarn haben, der gegenwärtig bereit ist, Gewalt anzuwenden, um seine Interessen durchzusetzen. Deswegen müssen wir uns gemeinsam so stark machen, dass das unterbleibt", ergänzte der Kanzler.
Viel mehr hat die deutsche Regierung über ihre Pläne seither nicht preisgegeben. Lediglich, dass die Raketenabwehr Thema bei den Vorgesprächen darüber sei, was mit den zusätzlichen Militärausgaben in Höhe von 100 Milliarden Euro angeschafft werden soll. Scholz hatte die Aufstockung Ende Februar als Reaktion auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine angekündigt.
Parteiübergreifende Zustimmung
Unterdessen ist eine Delegation des Verteidigungsausschusses des Bundestages nach Israel gereist, um sich dort über die Luftabwehr zu informieren. Der Plan eines Raketenabwehrschildes stößt auf breite Zustimmung über alle Parteigrenzen hinweg.
"Das ist eine erwägenswerte strategische Antwort auf die Bedrohung, die wir latent durch Russland auch für unser eigenes Land sehen", sagte Friedrich Merz, der Vorsitzende der oppositionellen Christdemokraten (CDU), am Montag gegenüber Reportern.
Zwar gilt ein direkter Angriff Russlands auf Deutschland oder andere NATO-Staaten als unwahrscheinlich. Verteidigungsexperten betrachten eine bessere Ausrüstung aber als notwendig für eine glaubhafte Abschreckung Russlands – und als Signal an verunsicherte Verbündete an der russischen Grenze.
So äußert sich auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag. Für die FDP-Politikerin ist die Raketenabwehr Teil einer glaubwürdigen Abschreckung - zusammen mit der Ankündigung, für die Bundesluftwaffe die in den USA hergestellte F-35 anzuschaffen, ein atomwaffenfähiges Tarnkappenflugzeug. Ein Kauf müsse gegebenenfalls sehr schnell gehen, aber auch seriös besprochen werden, sagte Strack-Zimmermann, die mit der deutschen Delegation in Israel ist.
Die Modernisierung des deutschen Militärs wird wahrscheinlich Jahre in Anspruch nehmen.
Raketenabwehr: Kein System passt für alle
Wo Details fehlen, schießen die Spekulationen ins Kraut – und die Verwirrung. In deutschen Medien und von einigen Politikern wurde der Begriff "Iron Dome" als Sammelbegriff für die Raketenabwehr verwendet. Israels "Iron Dome" ist aber ein sehr spezifisches System, maßgeschneidert für eine spezielle Anforderung. Mit dem Ziel: Das Abfangen von improvisierten und anderen Kurzstreckenraketen, die von der Hamas oder anderen islamistischen Gruppen direkt an den Grenzen des Landes auf Israel abgefeuert werden.
"Ein `Iron Dome´ wie in Israel, der auf die Abwehr von Kurzstreckenrakete in einem begrenzten Raum wie etwa einer Stadt angelegt ist, macht für Deutschland überhaupt keinen Sinn ", urteilt Steffi Christ, Sprecherin des CDU-Bundestagsabgebordneten Roderich Kiesewetter, in einem Statement gegenüber der DW.
Sie bezog sich damit auf Äußerungen Kiesewetters in den Medien. Kiesewetter, ehemals Militär im Rang eines Oberst, hatte den geplanten Kauf eines Raketenabwehrsystems gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland kritisiert. "Anstatt Milliarden in einen Iron Dome zu stecken, den unsere Nachbarländer viel dringender brauchen, sollten wir die Bundeswehr und den Zivilschutz finanziell besser ausstatten." Die Ressourcen seien falsch eingesetzt, wenn Deutschland jetzt Milliarden in ein rein nationales neues Raketenabwehrsystem investiere, sagte der CDU-Politiker.
Deutschlands Interesse wird vermutlich eher einem anderen israelischen System gelten, dem "Arrow". "`Arrow 3´ hat Israel entwickelt, um sie gegen iranische Raketen mit einer Reichweite von 1500 Kilometern einzusetzen", erläutert der Sicherheitsexperte Andreas Flocken gegenüber dem NDR. "Diese `Arrow 3´ wäre also vermutlich auch in der Lage russische Iskander Raketen abzuwehren. Solche Raketen sollen in Kaliningrad stationiert sein." Kaliningrad ist eine russische Exklave zwischen Polen und Litauen – und gerade einmal 700 Kilometer von Berlin entfernt.
Einbeziehung der Verbündeten
Viele Bundestagsabgeordnete unterstützen zwar die Anschaffung eines Systems wie Arrow 3. Allerdings gilt der Vorbehalt, dass jede Verbesserung der deutschen Luftverteidigung auch die europäischen Nachbarn einbezieht. Auch Kanzler Scholz hat sich wiederholt zu der im Gründungsvertrag des westlichen Bündnisses verankerte Linie der gemeinsamen Verteidigung bekannt. Im Falle des "Arrow"-Systems könnte das so funktionieren, dass das in Deutschland stationierte Radar auch Raketenstarts aufspürt die auf Verbündete gerichtet sind und denen dann die notwendigen Daten für einen Abschuss liefert. Allerdings müssten diese Länder eigene Raketenabwehrbatterien aufstellen, um die ankommenden Geschosse tatsächlich auszuschalten, betonen Verteidigungsexperten.
Gegen Hyperschallwaffen allerdings gibt es bislang keine zuverlässige Verteidigung. Experten verweisen auf deren hohe Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Hyperschallkapazitäten seines Landes in jüngerer Vergangenheit gerne vorgeführt. US-Beamte haben bestätigt, dass solche Raketen auch in der Ukraine eingesetzt wurden.
Unklar ist noch, wie stark Putins Hyperschallwaffenprogramm wirklich ist.
Wettrüsten vermeiden
Die Abwehr anfliegender Raketen ist extrem anspruchsvoll. Ein Angriff würde vermutlich aus einer ganzen Salve von Abschüssen bestehen, um eine Abwehr durch die schiere Menge anfliegender Geschosse zu bewältigen. Und schon eine einzige Rakete im Ziel könnte verheerende Konsequenzen haben, speziell wenn Atomwaffen zum Einsatz kämen.
Als abschreckendes Beispiel dient Verteidigungsexperten die sogenannte "Strategische Verteidigungsinitiative", SDI, des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan in den 1980er Jahren. Das Programm verschlang 120 Milliarden US-Dollar und sollte mit teils im Weltraum und teils auf dem Boden stationierten Infrarot-Beobachtungssatelliten, superschnellen Abfangraketen und hochenergetischen Laserkanonen einen undurchdringlichen Schild über den USA aufspannen. Anfang der 1990er Jahre wurde es beendet.
Sicherheitspolitiker nutzten das Scheitern von SDI anschließend als Argument, dass Rüstungskontrollverträge - und nicht Waffensysteme - den besten Schutz vor solchen Angriffen böten.
Mittlerweile ist das einstmals engmaschige Netz von Rüstungskontrollverträgen löchrig geworden. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland sind kaum noch eingeschränkt, sowohl konventionelle als auch unkonventionelle Waffen und deren Trägersysteme zu entwickeln und einzusetzen. Länder mit ähnlichen Fähigkeiten wie China sind ohnehin nicht vertraglich gebunden. Russland hat oft kritisiert, dass die Raketenabwehr das Gleichgewicht der Kräfte untergrabe und zu einem Wettrüsten führen könne.
Schon wird in Deutschland diskutiert, ob Investitionen in Raketenabwehr bereits als "Aufrüstung" zu werten sei. Kanzlersprecher Steffen Hebestreit versuchte am Montag zu beschwichtigen: "Ein rein defensives System, wie es ein solches Raketenabwehrsystem wäre, können Sie unter Aufrüstungsgesichtspunkten, dass es solche Dinge bisher nur in begrenztem Maß mit dem Patriot-System bei uns gibt, beurteilen. Aber ich glaube nicht, dass das im klassischen Sinne eine Militarisierung oder eine Aufrüstung in dem Sinne ist", führte der Sprecher von Scholz aus.
Das "Arrow 3" oder ein ähnliches System könnte laut "Bild am Sonntag" bis 2025 einsatzbereit sein und würde mit zwei Milliarden Euro zu Buche schlagen. Verteidigungsexperten rechnen mit höheren Kosten. Nach Angaben der Missile Defense Advocacy Alliance, einer in den USA ansässigen Lobbygruppe, kostet schon jede Batterie 170 Millionen Dollar und jede einzelne Abfangrakete rund drei Millionen Dollar. Hinzu kommen Schulungs-, Wartungs- und Betriebskosten während der gesamten Lebensdauer des Systems.
Deutschland bräuchte ein weitaus umfangreicheres Netz von Radaranlagen und Batterien als das flächenmäßig kleine Israel. Allein das deutsche Bundeslandes Bayern ist schon dreimal so groß.
Der Beitrag wurde aus dem englischen Original von Matthias von Hein adaptiert.