Deutschland kämpft gegen Obdachlosigkeit
13. Dezember 2021Am Tage geht es noch ruhig zu in der Notunterkunft für Wohnungslose der Caritas im Ortsteil Gesundbrunnen, einem bunten Arbeiterviertel im Norden Berlins. Das heißt aber nicht, dass es nicht viel zu tun gibt. Martin Parlow kauft Lebensmittel, bezahlt Rechnungen, organisiert Personal und Ressourcen. Parlow leitet ein Team von acht Mitarbeitern, mit denen er diese Unterkunft der katholischen Sozialhilfeorganisation betreibt.
Am Abend wird es lebendig. Da kommen etwa 18 Männer aus der Kälte herein, sagt Parlow. Sie wollen duschen, freuen sich auf eine warme Mahlzeit und brauchen einen sicheren Platz zum Schlafen. Einige sind betrunken, wenn sie ankommen. Andere sind wegen kleinerer Vergehen auf der Flucht vor dem Gesetz. Die meisten sind durch die Netze von Sozialsystem und Bürokratie gefallen, viele kommen aus anderen Ländern der Europäischen Union.
Am nächsten Morgen müssen sie wieder hinaus - in eine raue Welt, konfrontiert mit einer Vielzahl schwieriger Umstände: schlecht bezahlte Jobs oder Betteln, Suchtprobleme oder auch psychische und physische Krankheiten, die nicht behandelt werden. Im Winter sind zusätzlich die widrigen Elemente ihr Feind. "Einige kommen schon seit Jahren hierher. Ich finde das sonderbar und traurig, weil es eine wirklich sehr einfache Unterkunft ist", sagt Parlow der DW.
Neue Bedingungen für die "Gäste"
Die Notunterkunft ist zwar warm, aber ansonsten karg. Der Hauptschlafbereich erinnert an ein billiges Hostel für Rucksacktouristen: Etagenbetten aus Metall auf Linoleumboden. Einen Hauch von Privatsphäre sollen einfache Sichtschutzelemente schaffen. "Gäste" nennt Parlow diejenigen, die zum Übernachten in die Unterkunft kommen. Viele von ihnen kommen Nacht für Nacht und lassen einige Habseligkeiten an ihren Betten zurück: Hausschuhe, Mützen, Getränke, Seife, Rasierzeug.
Seit drei Jahren arbeitet Parlow in der Notunterkunft, die meiste Erfahrung sammelte er unter den Bedingungen der Pandemie. Als COVID-19 sich auch in Deutschland verbreitete, hat sich das Heim einer Schließung verweigert, sagt Parlow - trotz der anfangs weit verbreiteten Angst. Aber um die neuen Corona-Regeln einzuhalten, musste unter anderem die Zahl der untergebrachten Personen verringert werden. Vor der Pandemie konnten 25 Menschen die Nacht in der Unterkunft verbringen, in besonderen Notsituationen auch mehr.
Masken, Tests, Kontaktverfolgung sind ein Luxus. Mittlerweile ist das Personal geimpft. Das gilt auch für einige der Obdachlosen, die hierherkommen. Aber bei vielen liegt die Impfung Monate zurück – und oft kam dabei das Vakzin von Johnson & Johnson zum Einsatz, das inzwischen möglicherweise weniger wirksam ist.
Offen nur im Winter - und nur in der Nacht
"Wir wollen Leben retten, indem wir ein warmes Bett zur Verfügung stellen", erklärt Parlow. "Als dieses Hilfssystem vor 30 oder 40 Jahren aufgebaut wurde, starben die Menschen im Winter noch auf der Straße."
Die Notunterkunft ist nur nachts geöffnet und nur im Winter. Dafür, erklärt, Parlow, könnten Menschen ohne jegliche Formalitäten übernachten. Es werden keine Fragen gestellt, keine Papiere verlangt. Allerdings ist der Betrieb des Nachtasyls relativ teuer: Pro Bett und Nacht fallen etwa 45 Euro an - trotz des begrenzten Angebots an Dienstleistungen. Das Berliner Obdachlosennetzwerk bewege sich in Richtung eines 24/7-Modells, sagt Parlow. Damit könne mehr Beratung angeboten werden, Hilfe bei der Arbeitssuche und längerfristigen Wohnperspektiven.
Aber auch das ist nur ein Notbehelf. In Berlin und in ganz Deutschland sind Wohnungen Mangelware. Explodierende Mieten machen es immer schwieriger, stabile Wohnverhältnisse zu finden und zu halten. Deutschland hat einen bedeutenden Niedriglohnsektor und großangelegte Studien belegen: Die Wohlstandsschere klafft immer weiter auseinander, ein immer größerer Teil des Gehalts muss für die Miete aufgewendet werden - und diesen Druck verspürt inzwischen auch die Mittelschicht.
"Ohne die Sicherheit der eigenen vier Wände wird alles andere noch schwerer", weiß Parlow. "Wie soll man seine Alkoholsucht überwinden, wenn man sich ein Zimmer mit einem Alkoholiker teilt?"
Selbst große Organisationen wie die Caritas haben Schwierigkeiten, erschwingliche Wohnungen zu finden und an Bedürftige weiterzugeben, fügt er hinzu. Gewerbliche wie auch gemeinnützige Unternehmen arbeiten mit der Stadt zusammen und bieten Zehntausenden von Menschen kurzfristigen Wohnraum. Was als Provisorium für Wochen oder wenige Monate gedacht ist, dauert manchmal Jahre.
Politische Entscheidungsträger wurden in den letzten Jahren sowohl von der Zuwanderung überrascht wie auch vom Ansturm von Immobilieninvestoren. Beides hat die Obdachlosigkeit verschärft, zusammen mit unzureichenden Vorschriften für die Wohnungswirtschaft und ihrer mangelnden Durchsetzung.
Große Pläne der neuen Regierung, wenig Konkretes
Die Ampel-Koalition hat angekündigt, den Wohnungsneubau drastisch auszuweiten. Obdachlosigkeit soll bis 2030 überwunden werden. Im Koalitionsvertrag wird ein "nationaler Aktionsplan" angekündigt. Wie der konkret aussehen und umgesetzt werden soll, ist noch offen.
"Das Ziel, die Obdachlosigkeit in diesem Jahrzehnt zu überwinden, kann nur erreicht werden, wenn alle Regierungsebenen zusammenarbeiten", schreibt Ingrid Herden, Sprecherin des SPD-Vorstands, in einer Stellungnahme gegenüber der DW. "Aus diesem Grund wird eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten sein, die die vorbereitenden Arbeiten zur Erstellung eines Nationalen Aktionsplans übernimmt."
Grundsätzlich werde die neue Bundesregierung "es noch ausdefinieren müssen, was der Nationale Aktionsplan genau für sie beinhaltet und wie - und in welchem Ressort - die Ziele aus dem Koalitionsvertrag mit Leben gefüllt werden", bestätigt in einer Stellungnahme gegenüber der DW Krister-Benjamin Schramm. Schramm ist Mitarbeiter im Büro des grünen Bundestagsabgeordneten Chris Kühn. Der war bis zur Bundestagswahl Sprecher für Bau- und Wohnungspolitik seiner Bundestagsfraktion.
In der Berliner Landesregierung haben SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag konkretere Schritte auf Ebene des Stadtstaates festgehalten. Unter anderem sollen mehr eigene und EU-Mittel zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit eingesetzt, Zwangsräumungen juristisch genauer unter die Lupe genommen und die Hürden für die Vermittlung von Wohnraum gesenkt werden.
"Housing first"
Sowohl die Berliner Landesregierung als auch die Bundesregierung sprechen von "Housing First". Dieses in den Vereinigten Staaten entwickelte und auch in Deutschland bereits erprobte Konzept zielt darauf ab, Menschen direkt in eine eigene Wohnung zu bringen. Im Unterschied zu anderen Programmen müssen sich Obdachlose bei "Housing First" nicht für unabhängige und dauerhafte Wohnungen "qualifizieren". Bei anderen Programmen müssen Obdachlose zum Beispiel erst bestimmte Voraussetzungen erfüllen, wie etwa die Bewältigung von Suchtproblemen, bevor sie einen Platz zum Wohnen erhalten.
Hilfsorganisationen begrüßen zwar den neuen politischen Willen zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit. Sie sind aber skeptisch, was die Umsetzung angeht. Die Forderungen etwa der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) gehen über die Koalitionsvereinbarungen hinaus. Sie verlangt unter anderem eine stärkere Verankerung des Rechts auf Wohnen in der Verfassung, einen besseren Schutz vor Räumung und eine stärkere Mietpreiskontrolle. Außerdem wünscht sie sich leichteren Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung für Menschen ohne festen Wohnsitz.
Unsichere Datenbasis
Ein Problem für die Gestaltung effektiver Maßnahmen: Die Datenbasis ist löchrig. Erst seit 2020 ist ein Gesetz in Kraft, das die umfassende Erhebung von Daten zur Obdachlosigkeit vorschreibt. Erste Statistiken werden nicht vor dem nächsten Jahr erwartet. Bis dahin können sich Unterstützer und politische Entscheidungsträger nur auf Schätzungen stützen. Laut BAG W waren im Jahr 2018 rund 678.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Darunter sind 441.000 Flüchtlinge und 19.000 Kinder. Knapp zwölf Prozent hatten einen Arbeitsplatz. Fast ebenso viele waren Rentner. Rückstände bei den Mietzahlungen waren laut BAG W die häufigste Ursache für den Verlust der Wohnung.
Von 2008 bis 2018 hat sich die Zahl der Obdachlosen damit verdreifacht. Das ist vor allem auf Flüchtlinge zurückzuführen: Die fallen trotz ihres geschützten Status und ihrer beruflichen Fähigkeiten leichter durch die Maschen des sozialen Netzes und haben besondere Schwierigkeiten, eine feste Arbeit zu finden.
Martin Parlow von der Notunterkunft in Berlin-Gesundbrunnen geht von einer noch deutlich höheren Zahl gefährdeter Personen aus. So erfassten die Schätzungen beispielsweise jene jungen Menschen nicht, die mangels Wohnung ihr Elternhaus nicht verlassen können. Genauso wenig sind die erfasst, die in schlechten Beziehungen feststecken, weil sie sonst nirgendwo hin können. Allein in Berlin könnten nach Parlows Schätzung 200.000 Menschen zusätzlich in prekären Wohnverhältnissen leben.