Deutschland: Wie ein Pfarrer aus Köln Armut bekämpft
11. Oktober 2022Folgt man Pfarrer Franz Meurer durch die Katakomben seiner Kirche, dann muss man sich beeilen, Schritt zu halten. Der 71-Jährige hastet vorbei an Kartons voller Kinderkleidung, an eng bestückten Bücherregalen, an Fahrrädern, die aneinander lehnen. "3000 Stück geben wir pro Jahr an Bedürftige aus", sagt Meurer im Vorbeigehen und grüßt einen Mann in grüner Arbeitshose.
Meurer hält an, greift sich einen Schulranzen aus einem Stapel, schaut auf das Preisschild. "259 Euro. Das Beste vom Besten!" 400 dieser Ranzen verteile man an Kinder aus dem Viertel rund um die Kirche im Osten Kölns, sagt er. "Es ist leider der ärmste Teil der Stadt. Aber wir halten zusammen. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder mit Plastiktüten in die Schule gehen müssen."
"Gerade hier muss es schön sein"
Meurer hat auf den fast 1000 Quadratmetern Kirchenkeller von St. Theodor in Vingst eine Art Fabrik errichtet, eine Fabrik zur Bekämpfung von Armut. Mit hunderten Helfern sammelt er Spenden, verteilt Lebensmittel und Kleidung, lässt Nachhilfe geben, Fahrräder reparieren, organisiert das größte Feriencamp der Stadt.
"Wo es arm ist, darf es nicht ärmlich sein," sagt Meurer. "Gerade hier muss es schön sein." Meurers Fabrik läuft auf Volldampf, denn auch hier ist die Armut zurzeit auf dem Vormarsch. "Die ersten Anzeichen haben wir schon", sagt der Pfarrer. "Familien mit vielen Kindern sagen, dass sie nicht mehr duschen können wegen der Gaspreise. Familien mit neuen Abschlagszahlungen für Strom rufen an und sagen: Das krieg ich niemals hin."
Die Angst vor dem Winter
Dass es gerade eng wird für Ärmere, das lässt sich auch in der Kleiderkammer von St. Theodor beobachten. "Wir räumen die Regale voll und ruck zuck sind sie wieder leer", erzählt Renate Wesierski und zeigt auf Lücken zwischen Babystramplern und Winterjacken. Die 62-Jährige faltet Bettwäsche und gibt sie zwei jungen Frauen, die mit Kinderwagen gekommen sind.
"Es kommen mehr Leute als sonst", sagt sie. "Die haben Angst vor dem Winter und wollen vorsorgen. Denen geht das Geld aus." Eine der Frauen fragt nach Gummistiefeln für ihre sechsjährige Tochter. Doch Wesierski muss passen, sie hat gerade nichts mehr in der richtigen Größe da. "Nächste Woche wieder", sagt sie.
Essen für mehr als 200 Familien
Ein paar Türen weiter trägt Norbert Zeyß Plastikkisten voller Paprika und Bananen zu den Biertischen der Lebensmittelausgabe von St. Theodor. "Wir versorgen wöchentlich 180 Familien aus Köln", sagt er. "Und seit Frühjahr noch 45 Familien, die aus der Ukraine gekommen sind. Die Leute brauchen alles, was sie an Lebensmitteln bekommen können." Noch etwa 30 Familien mehr könne man wohl mit den Spenden von Kölner Supermärkten versorgen, sagt Zeyß. "Aber das Kontingent wird bald voll sein. Und dann müssen wir sagen: tut uns leid, geht nicht mehr."
An der Wand hinter Zeyß sind vier ausgemergelte Kindergesichter zu sehen. "Deutschlands Kinder hungern" heißt der Druck einer Kreidezeichnung von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1923. Damals herrschte in Deutschland Hyperinflation, ein US-Dollar war vier Billionen Mark wert. Brot wurde teuer, Butter unerschwinglich, Millionen Deutsche litten Hunger. Dass solche Zeiten einhundert Jahre später wieder anbrechen im reichen Deutschland? Unwahrscheinlich. Doch die Angst vor Inflation und Abstieg sitzt tief.
Wenn die Nebenkosten steigen, wird es schwierig
"Ich glaube, die Zeiten, die jetzt kommen, werden noch härter als die, die meine Oma erlebt hat", sagt Marianne Miebach. Die 66-Jährige steht seit Stunden mit ihrem Einkaufstrolley vor St. Theodor und wartet im Regen auf die Lebensmittelausgabe. "Ich werde die ganz schlimme Zeit wohl nicht mehr miterleben", sagt sie. "Aber ich mache mir Sorgen um meine vier Kinder und meine fünf Enkel. Die werden ackern müssen ein Leben lang nur für Miete und Lebensmittel."
Um ihre kleine Rente aufzubessern, sei sie selbst schon früh morgens unterwegs und stelle Zeitungen zu, erzählt Miebach. So komme sie auf 1400 Euro monatlich. Doch gerade seien Miete und Nebenkosten ihrer kleinen Wohnung erhöht worden, von 730 auf 950 Euro. Für Lebensmittel bleibt da nicht mehr viel übrig. Deshalb ist sie froh über Paprika, Brot und Schokokekse, die heute in ihrem Trolley landen.
"Im Kleinen anfangen"
Wie Miebach sind mittlerweile zwei Millionen Menschen in Deutschland auf Lebensmittelspenden angewiesen, schätzt der Dachverband der fast 1000 "Tafeln" im Land. Angesichts steigender Preise und drohender Rezession dürfte die Zahl der Bedürftigen weiter zunehmen. Teile der Mittelschicht könnten abstürzen. Millionen Menschen sind von Armut bedroht, also davon, deutlich weniger zu haben als der Durchschnitt.
Wird aus einem reichen Land gerade ein Land mit vielen armen Menschen? Die Diskussion darüber, wie das verhindert werden kann, ist in vollem Gang. Doch ein einfaches Rezept scheint niemand im Angebot zu haben. "Das interessiert mich nicht", sagt Pfarrer Franz Meurer. "Politiker und manchmal auch Journalisten wollen immer alles flächendeckend ändern. Aber das ist falsch." Wichtiger sei es, im Kleinen anzufangen, da, wo man selbst etwas bewirken könne. "Und einen größeren Anspruch haben wir hier nicht."
Licht in der Dunkelheit
Dazu gehört, dass es auch im ärmsten Teil Kölns in der Vorweihnachtszeit festlich leuchten soll. Meurer verweist auf die 130 Weihnachts-Sterne, die in einem der Kellerräume unter seiner Kirche lagern. Jedes Jahr im Advent bringen Helfer die grünen Gebinde mit weißen LED-Lampen an Straßenlaternen im Viertel an. Ob sie auch dieses Jahr für Lichterreichtum im Advent sorgen? Noch ist nichts entschieden - angesichts der Energieknappheit im Land könnte es jedoch sein, dass es in diesem Jahr dunkler wird rund um St. Theodor in Köln.