Deutschlands Außenpolitik: Von Werten und Interessen
4. Mai 2023Der Ausdruck "wertegeleitete Außenpolitik" findet sich bereits im Koalitionsvertrag der Berliner Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP. Darin ist zwar sowohl von Interessen als auch von Werten die Rede, die die Außenpolitik leiten sollen, die grüne Außenministerin betont aber vor allem die Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte.
Baerbock spricht lobend, wenn sie durch die Welt reist, von "Wertepartnern", von Ländern, die die Werte des Westens und Deutschlands teilen, kürzlich zum Beispiel in Südkorea. Und sie ist andererseits bereit, Länder offen anzuprangern, die diese Werte nicht teilen, auch das mächtige China - mit manchmal heftigen Konsequenzen. Ihr chinesischer Amtskollege Qin Gang sagte bei einer Pressekonferenz mit Baerbock: "Was China am wenigsten braucht, ist ein Lehrmeister aus dem Westen."
Manche warnen inzwischen, China sei für Deutschland zu wichtig, als dass man sich derart mit dem Land anlegen sollte. Der Philosoph Richard David Precht sagte kürzlich im ZDF-Podcast "Lanz und Precht", Baerbocks wertegeleitete Außenpolitik "ist in Wirklichkeit eine konfrontationsgeleitete Außenpolitik".
Andere meinen eher, dass Baerbock nicht genug für Werte einstehe. Beispiel Iran: Nach der Bestätigung des Todesurteils gegen den Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd fragte dessen Tochter in der "Neuen Osnabrücker Zeitung": "Wo waren denn die ernsthaften Konsequenzen, von denen Frau Baerbock gesprochen hat, als ein deutscher Staatsbürger entführt und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wurde?"
Eine Frage der Abwägung
Was ist wichtiger in der Außenpolitik, Werte oder Interessen? "Sie lassen sich nicht trennscharf abgrenzen", sagt Karoline Eickhoff, Afrikaexpertin von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, gegenüber der Deutschen Welle. "Relevant wird ihr Verhältnis oft dann, wenn bei außenpolitischen Entscheidungen zwischen einer Werteorientierung und eigenen Interessen abgewogen werden muss", so Karoline Eickhoff.
Johannes Varwick, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Halle, sieht das Konzept einer werteorientierten Außenpolitik kritisch, denn "es nimmt massiv Handlungsspielraum für Kompromisse und bewegt zudem wenig", sagt er der DW. "Internationale Politik ist das mühsame Geschäft des Austarierens von Interessen. Das bedeutet nicht, über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen und Wirtschaftsinteressen absolut zu setzen. Es bedarf aber Kompetenz und Empathie, andere Länder nach Maßgabe ihrer eigenen historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung einzuschätzen und zu verstehen."
China und Russland mischen sich nicht ein
Die Idee einer werteorientierten Außenpolitik ist aber weder neu, noch an Deutschland gebunden. Die Europäische Union verfolgt im Grunde dasselbe, wenn sie good governance zum Kriterium für Entwicklungszusammenarbeit macht: Hilfe wird davon abhängig gemacht, inwieweit ein Land zum Beispiel gegen Korruption vorgeht, sich für Frauen- und Minderheitenrechte einsetzt oder in den Umwelt- und Klimaschutz investiert.
Einen ganz anderen Weg gehen autokratische Staaten wie China und Russland. Russland liefert Waffen zum Beispiel an Länder in Afrika, China baut dort Bahnlinien, Häfen und Kommunikationsnetze, im Gegenzug sichern sie sich Rohstoffe. Fragen nach Demokratie und Menschenrechten werden nicht gestellt. China hat mit diesem Ansatz in Afrika seine Machtstellung deutlich ausgebaut und die Europäer teilweise verdrängt.
Afrikaner sehen China heute kritischer
In der von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung beauftragten Analyse "The clash of systems - African perceptions of the European Union and China engagement" heißt es: "Der Glaube der EU an die Überlegenheit ihrer Werte, besonders des liberalen, demokratischen Modells, steht klar unter Druck des chinesischen Modells." Die afrikanischen Autoren der Studie schreiben, in Afrika schätze man unter anderem Chinas "Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten". Afrikaner nähmen China eher als gleichwertigen Partner wahr, die Europäer mit ihrem Werteexport dagegen als "paternalistisch".
Karoline Eickhoff weist auch auf eine in Afrika wahrgenommene Doppelmoral der EU hin: "Europas Bekenntnis zu Menschenrechten in der Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten wird regelmäßig in Zweifel gezogen, wenn es um migrationspolitische Entscheidungen geht."
Doch es ist keineswegs ausgemacht, welches Konzept hier längerfristig das erfolgreichere ist. Aus dem jüngsten "Afrobarometer" geht hervor, dass man in einigen afrikanischen Ländern den Einfluss Chinas heute deutlich kritischer sieht als noch vor vier Jahren.
Und der Westen hat verstanden. Als Reaktion auf den schwindenden Einfluss im globalen Süden wollen die sieben wichtigsten demokratischen Industriestaaten, die G7, mehr auf diese Länder zugehen. Man wolle "Angebote machen für Zusammenarbeit auf Augenhöhe, statt auf Rohstoffausbeutung und Knebelverträge zu setzen", sagte Baerbock offenbar mit Blick auf China bei einem G7-Außenministertreffen im April in Japan.
Schwierige Suche nach Verbündeten gegen Russland
Die Idee von einer Wertegemeinschaft gerät besonders im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg unter Druck. Russlands Einmarsch in das Nachbarland war ein besonders krasses Beispiel einer Missachtung von universellen Werten wie der Souveränität von Staaten und der Unverletzlichkeit ihrer Grenzen.
Trotzdem haben sich bei UN-Abstimmungen über eine Verurteilung Russlands zahlreiche Staaten, die traditionell dem Westen zugerechnet werden, enthalten, zum Beispiel Brasilien und Indien.
Ein Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Brasilien konnte daran nichts ändern. Mehr noch, Präsident Luiz Lula da Silva sagte kürzlich in Peking, die USA müssten "aufhören, den Krieg zu fördern, und anfangen, über Frieden zu reden" und auch die EU müsse "anfangen, über Frieden zu reden". Von einer Parteinahme gegen Russland, gar von Waffenlieferungen an die Ukraine keine Spur. Auch bei einem Besuch in Indien konnte Scholz keinen "Wertepartner" für ein Bündnis gegen Russland gewinnen.
Johannes Varwick überrascht das nicht, "weil diese Staaten auf ihre eigenen Interessen schauen und zudem doppelte Standards beklagen. Wenige wollen sich in einen von den USA befeuerten neuen Globalkonfikt zwischen Demokratie und Autokratie hineinziehen lassen." Mit Sympathie mit dem russischen Vorgehen habe das nichts zu tun.
Zuletzt schien sogar der engste deutsche Verbündete Frankreich auszuscheren. Präsident Emmanuel Macron hatte nach einem China-Besuch hinsichtlich der Taiwan-Frage den Europäern empfohlen, Krisen zu meiden, "die nicht unsere sind". Europa müsse sich davor hüten, zum "Vasallen" zu werden. In Berlin wurde das als Anbiederung an China empfunden.
Entscheidend: Glaubwürdigkeit
Werte und Interessen. Beide haben in der deutschen Außenpolitik immer eine Rolle gespielt. Es gibt weder eine allein werte- noch eine rein interessengeleitete Außenpolitik. Bei der Abwägung zwischen beiden rät Johannes Varwick aber, dass man sich "klar definierte nationale Interessen" bewusst macht, sonst drohe "eine Überdehnung der Kräfte und Möglichkeiten" und bei einer "(zu) starker Werteorientierung und moralisierender Rhetorik" auch mitunter eine "Neigung zum politischen 'Kreuzfahrertum'".
Karoline Eickhoff meint mit Blick auf den Umgang mit Afrika, es könne hilfreich sein, "die eigene Werteorientierung zu betonen, wenn das konkrete Verhalten vor Ort diese Werteorientierung widerspiegelt." Als Schlüssel sieht sie die Glaubwürdigkeit: "Eine werteorientierte Außenpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie hohe Standards an das eigene Verhalten anlegt, und nicht nur Forderungen zu Verhaltensänderungen an Partnerländer richtet."