Auswärtiges Amt öffnet Archive für Sekten-Opfer
27. April 2016Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier musste einräumen, dass das Auswärtige Amt jahrzehntelang vor einer menschlichen Tragödie die Augen verschlossen hielt. Das damalige Botschaftspersonal in Chile hätte sehen können, was sich in der Sektensiedlung Colonia Dignidad ("Kolonie Würde") abspielte, so der Außenminister vor Opfern in Berlin. "Von den 60er- bis in die 80er-Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut - jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan."
Die Kolonie war 1961 vom deutschen Laienprediger Paul Schäfer gegründet worden, einem nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland geflohenen früheren Wehrmachtssoldaten, der wegen Kindesmissbrauchs verurteilt war. Hinter den Hochsicherheitszäunen seiner neuen chilenischen Sektensiedlung wurden dann, so schätzen Opfer heute, in mehr als drei Jahrzehnten weit über 30.000 Jungen vergewaltigt. Zudem unterwarf Schäfer seine Anhänger einem System brutaler Unterdrückung und Überwachung - mit Gehirnwäsche, drakonischen Strafen und Schweigegelübde. Für den chilenischen Militärdiktator Augusto Pinochet (1973-1990) diente die Deutschensiedlung zudem als berüchtigtes Folterlager - und als Nachschubbasis für Waffen und Giftgas. Die Siedlung lag etwa 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago.
Steinmeier: "Ich verneige mich vor den Opfern"
Wolfgang Kneese, der als einer von wenigen aus den Fängen der Sekte fliehen konnte, erinnert sich nur sehr ungern an die Rolle, die die deutsche Botschaft dabei spielte. "Als ich aus der Colonia draußen war, hatte ich Angst vor dem Auswärtigen Amt." Der Grund, so Kneese, sei das "System Paul Schäfer" gewesen, also ein gut vernetztes Bündnis von Profiteuren und Mitläufern des Unterdrückungsapparats der Sekte - und ein Netzwerk von jenen, die wegschauten. Welche Rolle den deutschen Diplomaten genau zukam, das soll nach dem Willen des Außenministers jetzt aufgeklärt werden. "Das erste Gebot ist, dass wir Transparenz schaffen", so Steinmeier gegenüber zahlreichen Opfern, die für diesen Moment aus Chile nach Berlin gereist waren.
Steinmeier kündigte an, dass die Akten des Auswärtigen Amtes zum Fall Colonia Dignidad früher als üblich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Schon bald sollen demnach Wissenschaftler und Journalisten lesen können, was deutsche Diplomaten in den Jahren 1986 bis 1996 über das Treiben der deutschen Terrorsekte wussten. Damit lockert Steinmeier die Geheimhaltungsfrist um zehn Jahre, was bei Opfervertreter Wolfgang Kneese positiv ankommt: "Das verdient großen Respekt." Zwar trage das Auswärtige Amt "keine Verantwortung für das Unwesen, das Paul Schäfer und seine Spießgesellen trieben", so Steinmeier weiter. Aber die deutsche Botschaft habe jenen Rat und Schutz verwehrt, den die Bewohner der Colonia dringend bedurft hätten. In dieser Verantwortung sagte er: "Ich verneige mich vor den Opfern der Colonia Dignidad."
"Sitzen alle seelisch im Rollstuhl"
Ins Rollen gebracht hatte diese verstärkte Aufarbeitung ein Kinofilm. Regisseur Florian Gallenberger hatte nach fünfjähriger Recherche im vergangenen Jahr "Colonia Dignidad - Es gibt kein zurück" ins Kino gebracht - und damit auch im Auswärtigen Amt ein Nachdenken über dieses dunkle Kapitel deutscher Diplomatie eingeläutet. Das gab der Außenminister unumwunden zu. "Sie sehen, wie wichtig Anstöße aus der Kultur für die Politik sein können."
Für Anna Schnellenkamp, sie wohnt noch heute auf dem Gelände der einstigen Sektensiedlung, zeigt der Film erschreckend gut "die Härte und die Unterdrückung", die Sektenführer Paul Schäfer tagtäglich praktizierte. "Aber es war letztlich noch viel schlimmer." Auch nachdem Schäfer im Jahr 1997 nach Argentinien geflohen war, sei das Leben in der gleichen Struktur weitergegangen. Schäfer wurde nach seiner Festnahme wegen Kindesmissbrauchs zu 33 Jahren Haft verurteilt und starb 2010 in einem chilenischen Gefängnis. Aktuell lebten in der Siedlung, die inzwischen in "Villa Baviera" ("Bayrisches Dorf") umgetauft wurde und Touristen mit Oktoberfesten und Blasmusik anlockt, noch rund 130 Personen.
"Niemand hatte Dokumente, niemand hatte Geld", so Schellenkamp. Deshalb seien viele Bewohner paradoxerweise geblieben. Zwei Drittel von ihnen sind älter als 65 Jahre. Wolfgang Kneese fasst zusammen, was viele denken würden: "Wir sitzen im Prinzip alle seelisch im Rollstuhl." Viele Opfer fordern daher, dass der deutsche Staat sich für sie einsetzt und beispielsweise eine professionelle psychologische Betreuung finanziert. Es sei an der Zeit, so Schnellenkamp, "dass die Last von unseren Schultern genommen wird". Viele andere Betroffene gehen weiter, fordern Entschädigungen.
Unbehelligte Täter und offene Fragen des Andenkens
Dass viele Taten von damals ungesühnt sind, belastet viele Opfer zudem. Zum Beispiel der Fall von Hartmut Hopp, dem ehemaligen Vizechef des Lagers. Er war 2011 nach Deutschland geflohen, um einer Haftstrafe in Chile zu entgehen. Ein Gericht hatte ihn 2005 wegen mehrfachen sexuellen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilt. "Das Verblüffende ist, dass solche Täter von damals weiter frei in Deutschland leben können", so Wolfgang Kneese verbittert. Hartmut Hopp lebt bekanntermaßen in Krefeld. Ob die deutsche Justiz seine chilenische Haft vollstrecken kann, ein neues Verfahren anstrengt oder den Fall zu den Akten legt, ist weiter ungeklärt. Für viele Opfer ist das beinahe unerträglich.
Ungeklärt ist bis zum heutigen Tag auch, was mit dem Gelände der Sektensiedlung geschehen soll. Regisseur Florian Gallenberger, der zahlreiche Besuche auf dem Gelände absolvierte, rät dazu, eine Gedenkstätte einzurichten. "Es gibt dort jetzt Tourismus, aber alles andere, das fehlt." Vielleicht kommt da die Reise des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck gerade Recht. Der will im Sommer nach Chile reisen und könnte den Aufklärungswillen im Fall Colonia Dignidad weiter vorantreiben. Beispielsweise durch einen Besuch der Siedlung. Ob Gauck diese Station allerdings wirklich einplant, das ist derzeit noch nicht bekannt.