Die Argumente der französischen Verfassungsgegner
29. Mai 2005Die politische Klasse ist sich ausnahmsweise einig: Seit Wochen touren Vertreter von Sozialisten und der Regierungsparteien durch das Land, um das scheinbar Unmögliche doch noch möglich zu machen: ein Ja der Franzosen zur Europäischen Verfassung. Im Wahlkampfendspurt kommen auch noch einmal zahlreiche ausländische Politiker nach Frankreich. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist einer von ihnen. Mit dem Slogan "Europa braucht Frankreich und Frankreich braucht Europa" beschwört er das französische Volk, der Verfassung zuzustimmen.
Bürger sehen keine Vorteile
Doch der Wahlkampf der Befürworter scheint bislang nicht zu zünden. Dabei nutzen diese jede erdenkliche Möglichkeit für die Kampagne. Bücher über die EU-Verfasssung haben längst die Bestsellerlisten gestürmt. Doch die Vorteile des Vertragstextes leuchten vielen Franzosen nicht ein. Wenn man schon eine Verfassung für Europa schreibe, so die vorherrschende Meinung, dann solle sie auch klar und verständlich sein. Der 400 Seiten starke Vertragstext, den die Regierung jedem Haushalt kostenlos zur Verfügung stellt, gibt den Bürgern aber offenbar keine zufrieden stellende Antwort.
Die Gründe für die weit verbreitete Ablehnung der Verfassung sind vielfältig. Auf der rechtsextremen und nationalen Seite fürchtet man durch die Verfassung weitere Souveränitätsverluste und argumentiert mit der Ablehnung des Türkei-Beitritts, obwohl der nichts mit der Verfassung zu tun hat. Auf der linken Seite wird der Verfassung vorgeworfen, sie würde ein neoliberales Wirtschaftsverständnis in Zement gießen. Schließlich kommt aber noch eine andere Komponente hinzu, sagt Professor Henrik Uterwedde vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg: "In Wirklichkeit geht es darum, dass die französische Gesellschaft zutiefst verunsichert ist und Zukunftsängste hat. Wir haben eine soziale Krise, eine ökonomische Krise, eine Orientierungskrise, und in diesem Moment kommt eine Verfassung, die vielen Menschen von oben herab aufgedrückt scheint." Uterwedde verweist auf einen französischen Abgeordneten, der es einmal sehr drastisch zusammengefasst hat: "Die Franzosen stimmen nicht für oder gegen die Verfassung, sondern sie wollen es den politisch Verantwortlichen aller Couleur zeigen und ihren Protest ausdrücken."
Kampf gegen Verfassung als politisches Sprungbrett
Und einige der politisch Verantwortlichen, so Uterwedde, spielen ein falsches Spiel. So zum Beispiel der populärste Repräsentant des Nein-Lagers, der Sozialist Laurent Fabius. Er kämpft seit Wochen gegen das angeblich neoliberale Europa der Verfassung. In Wirklichkeit gehe es ihm aber vor allem um seine Chancen für die Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren. Aus diesem Grund habe er sich von der offiziellen Parteilinie der Sozialisten verabschiedet. "Fabius gibt dem Nein ein respektables Gesicht. Als Premierminister hat er aber die Finanzmärkte liberalisiert und 1986 die Einheitliche Europäische Akte ausgehandelt und unterschrieben. Die hat damals auch die Liberalisierung in Europa weiter vorangetrieben", bilanziert Uterwedde.
Doch die Botschaft eines neoliberalen Europas verfängt beim Wähler, obwohl sie offenkundig paradox ist, wie Renaud Dehousse vom Pariser Institut für Politikwissenschaften erläutert. Auch dürfe man seiner Meinung nach nicht glauben, dass die Debatte in Frankreich über die Verfassung gehe. "Die Verfassung ist eine Gelegenheit für eine Debatte über Europa und darüber, wie sich Frankreich in diesem Europa positioniert", erklärt Dehousse.
Chirac sprachlos
In dieser Debatte haben die Verteidiger der Verfassung bis heute große Schwierigkeiten, die Notwendigkeit des Projektes dem Wähler zu vermitteln. Staatspräsident Jacques Chirac musste in einer Fernsehdebatte mit Jugendlichen gar seine Sprachlosigkeit bekennen: "Wir haben eine Jugend und ein Volk, die stolz auf Frankreich sein könnten. Zudem sind sie in der Lage, in Europa eine führende Rolle zu spielen. Aber sie sind gerade dabei, zu Schlusslichtern zu werden. Das verstehe ich nicht, und ich finde das sehr traurig und schade."
In den letzten Tagen vor der Abstimmung setzt das Lager der Befürworter seine letzten Hoffnungen auf die Unentschiedenen. Ein Drittel der Franzosen ist für die Verfassung, ein Drittel dagegen und ein Drittel hat sich noch nicht entschieden. Wenn die Unschlüssigen noch überzeugt werden können, dann könnte in Frankreich das Ja doch noch triumphieren. Wie schon beim Maastricht-Referendum 1992 - da lagen die Befürworter in den Umfragen auch zurück, am Ende siegte das Ja - wenn auch nur mit 51 Prozent.