Die beharrende Kanzlerin
22. Januar 2016Seit mehr als zehn Jahren ist sie Bundeskanzlerin, seit 15 Jahren Vorsitzende der CDU. Weltweit hat Angela Merkel Regierungschefs kommen und gehen gesehen. Noch im Mai vergangenen Jahres kürte sie das "Forbes"-Magazine zum fünften Mal in Folge zur mächtigsten Frau der Welt. Tatsächlich führte in der EU-Finanzkrise und im anschließenden europäischen Schuldenpoker kein Weg an der deutschen Kanzlerin vorbei. Und jetzt?
Angela Merkel ist schwer angeschlagen, sowohl innenpolitisch als auch auf europäischer Ebene. Wie konnte es dazu kommen? Hat sich die Bundeskanzlerin verkalkuliert? "Europa als Ganzes muss sich bewegen, die Staaten müssen die Verantwortung für asylbegehrende Flüchtlinge teilen", so lautet nach wie vor ihre Forderung. Doch die Mehrheit der EU-Staaten verweigert sich, allen Appellen zum Trotz. Der Versuch, die Lasten der Flüchtlingskrise auf viele Schultern zu verteilen, sind ganz offensichtlich gescheitert und damit auch Angela Merkels politischer Plan.
"Wir schaffen das"
Schweden, Österreich und Deutschland waren die Staaten, die bis vor kurzem die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Sowohl die Skandinavier als auch die Österreicher haben inzwischen die Notbremse gezogen und wollen den Zuzug einschränken. Und Deutschland? Bundeskanzlerin Angela Merkel will von einer Obergrenze nichts wissen. Im nationalen Alleingang sei das nicht zu erreichen, argumentiert sie weiterhin und denkt über die Konsequenzen nach: Müssen dann Panzer an der deutschen Grenze auffahren, muss auf Menschen geschossen werden, die sich nicht abweisen lassen wollen?
Mit ihrer nüchternen, sachlichen Art, an Probleme heranzugehen, sie umfassend zu analysieren und eine logisch nachvollziehbare Lösung zu finden, hatte Merkel stets Erfolg. Sie denke die Dinge vom Ende, vom Ergebnis her, wird über sie gesagt. Emotionen haben in der Welt der promovierten Physikerin wenig Platz. Doch als sich im Sommer letzten Jahres immer mehr Deutsche in der Flüchtlingshilfe engagierten, als sich eine so nie gekannte "Willkommenskultur" verbreitete, ließ sich offensichtlich auch die Kanzlerin anstecken.
"Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden", sagte Merkel Ende August 2015.
Der 5. September und die Folgen
Eine für die Bundeskanzlerin außergewöhnlich weitreichende Festlegung, die sie alle Glaubwürdigkeit kosten würde, würde sie wieder davon abrücken. Dabei war Merkel schon früh durchaus bewusst, dass die Flüchtlingskrise mit keiner politischen Herausforderung der jüngsten Vergangenheit zu vergleichen ist, sondern eine historische Zäsur darstellt. 800.000 Flüchtlinge, so schätzte man im Sommer 2015, würden bis Ende des Jahres nach Deutschland kommen. "Wir stehen vor einer großen nationalen Aufgabe, die geht jeden an", sagte Merkel damals und gab eine Prognose ab: "Dies wird eine zentrale Herausforderung sein, nicht nur für Tage oder Monate, sondern, soweit man das absehen kann, für eine längere Zeit."
Wusste die Kanzlerin da schon, dass sie fünf Tage später etwas tun würde, was Kritiker ihr bis heute anlasten? Sie habe die Schranken für einen unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland geöffnet, heißt es über die Entscheidung Merkels, nach einem Telefonat mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann am 5. September die Grenzen für in Ungarn festsitzende Flüchtlinge zu öffnen.
Druck aus den eigenen Reihen
Tatsache ist, dass die Bundesregierung und allen voran Angela Merkel in den sozialen Netzwerken, auf Facebook und Twitter, umgehend mit fast religiösem Beiklang gefeiert und verehrt wurden. "Merkel, die Mutter aller Gläubigen", wurde die Kanzlerin genannt, weil sie die Syrer "eingeladen" hätte und Deutschland sie mit offenen Armen aufnehmen würde.
Tatsächlich standen am Tag nach der Entscheidung sehr viele Deutsche beispielsweise am Münchener Hauptbahnhof und begrüßten die Flüchtlinge begeistert und hilfsbereit. Die Bilder gingen um die Welt, während in Deutschland der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer grollte und über Merkels Entscheidung sagte: "Das war ein Fehler". Einer, der sich nicht wiederholen dürfe. "Sonst wird die Zahl so groß werden, dass der Zugang, wie es im Moment schon ist, ein völlig unkontrollierter ist", ergänzte der bayerische Finanzminister Markus Söder.
"Dann ist das nicht mehr mein Land"
Die Positionierung Seehofers war der Beginn einer internen politischen Auseinandersetzung, die Angela Merkel inzwischen weitaus geschwächter erscheinen lässt, als dies der Fall wäre, wenn sie die eigenen Reihen geschlossen hinter sich hätte. Die bayerische CSU ist die Schwesterpartei der CDU, auf Bundesebene treten die beiden Parteien als "Union" gemeinsam auf.
Wie sehr Merkel schon im September vom unmittelbaren Angriff aus dem eigenen Lager getroffen wurde, zeigt eine öffentliche Reaktion, zehn Tage nach der Grenzöffnung. "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
Der Bruch
Eigentlich sind schon seitdem die Fronten abgesteckt und haben sich kaum mehr bewegt. Allerdings wird die CSU nicht müde, immer wieder anzugreifen. Ein Höhepunkt war der CSU-Parteitag in München im November, auf dem Angela Merkel noch einmal betonte: "Wir müssen alle Kraft auf eine europäische, internationale Lösung setzen." Nach der Rede der Kanzlerin betrat Horst Seehofer das Podium, aber nicht, um Merkel zu ihrem Platz zurückzubringen.
Stattdessen ließ er sie auf der Bühne neben sich stehen, während er vor den Delegierten eine Viertelstunde lang konterte: "Wir sind der festen Überzeugung, dass diese große historische Aufgabe, die Integration von Flüchtlingen in unserem Land, dass auch die Zustimmung der Bevölkerung nicht auf Dauer zu haben sind, wenn wir nicht zu einer Obergrenze bei der Zuwanderung von Flüchtlingen kommen." Dafür erntete Seehofer tosenden Applaus von den Delegierten.
Macht oder Gesicht verlieren
Inzwischen hat die CSU die Forderung konkretisiert und möchte pro Jahr nicht mehr als 200.000 Flüchtlinge ins Land lassen. Die Einführung einer Obergrenze wird aber auch in der CDU immer heftiger diskutiert und findet auch dort zunehmend Befürworter. Doch die Kanzlerin bewegt sich nicht. Es habe "keine Spur des Entgegenkommens" gegeben, sagte der CSU-Vorsitzende Seehofer nach einer Tagung der CSU-Landtagsfraktion in Kreuth am 20. Januar, an der auch Merkel teilnahm. "Das war für mich enttäuschend und ich glaube, wir gehen da politisch auf schwierige Wochen und Monate zu."
Die CSU droht mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, um die Grenzsicherung durchzusetzen. Bis März habe die Bundeskanzlerin noch Zeit, ihre Fehler zu korrigieren. Sollte Merkel nicht einlenken, müsste die CSU eigentlich die Koalition mit der CDU aufkündigen und aus der Regierung austreten. Dann wäre wohl auch die Kanzlerschaft Angela Merkels zu Ende. Hat sie also nur die Wahl zwischen Macht- oder Gesichtsverlust? Oder wird es am Ende doch eine europäische Lösung geben? Antworten auf diese Fragen hat derzeit niemand.