Angst vor dem Alleinsein
15. Juni 2016Deutsche Politiker wollen sich normalerweise nicht in die britische Debatte einmischen. Sie befürchten, das würde eher das Lager der Austrittsbefürworter stärken. Doch inzwischen, da laut jüngsten Umfragen ein Brexit durchaus möglich scheint, macht sich in Berlin eine gewisse Panik breit. Die Bundesregierung wünscht sich sehnlichst, die Briten würden bleiben.
Vizekanzler Sigmar Gabriel warnte Anfang des Monats vor "dramatischen" wirtschaftlichen und politischen Folgen für beide Seiten, sollten die Briten die EU verlassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte es positiv und sagte: "Ich persönlich wünsche mir, dass Großbritannien Teil der EU bleibt."
Der deutsche CDU-Europaabgeordnete David McAllister, der auch die britische Staatsbürgerschaft hat, meint gegenüber der Deutschen Welle: "Eine Europäische Union ohne das Vereinigte Königreich wäre mit Sicherheit keine bessere EU. Die Briten sind traditionell eine treibende Kraft bei Fragen des Binnenmarkts, bei Fragen des Freihandels. Sie haben einen exzellenten diplomatischen Dienst, und sie haben sehr starke Streitkräfte. All das sind gute Argumente, dass das Vereinigte Königreich in der EU bleibt."
Auch die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung will die Briten weiterhin in der EU haben. In einer von der DW in Auftrag gegebenen infratest-dimap-Umfrage vom April wünschten sich das 78 Prozent der Befragten. Es war der höchste Wert unter fünf europäischen Nationen einschließlich Großbritanniens selbst.
Gemeinsame Werte
Die regierenden Konservativen in Großbritannien sind zwar gespalten hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft. Doch es gibt eine Menge Sympathie für die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel und gegenüber Deutschland allgemein. Martin Callanan, früher Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten im Europaparlament und heute Mitglied des britischen Oberhauses, hat einmal im DW-Interview gesagt: "Merkel ist Cameron bei einer Reihe von wichtigen Fragen sehr nahe. In Wirtschaftsfragen, wenn es um offene Märkte und Freihandel und strikte Haushaltspolitik geht, haben wir Konservative viel mit Berlin gemeinsam."
Callanan sah sogar eine Art natürliche Allianz. Das Vereinigte Königreich und Deutschland "werden immer mehr zu den beiden Anführern Nordeuropas, während Frankreich der geistige Führer Südeuropas wird". Frankreich mit seinem Staatsinterventionismus und das wettbewerbsorientierte Deutschland seien zwar geographische Nachbarn, so Callanan "aber sie sind auf keinen Fall mehr ideologische Nachbarn".
Ein Zeichen auch der engen persönlichen Beziehungen war, dass Merkel mit ihrem Mann einmal in Camerons Residenz Chequers eingeladen war und die Kanzlerin umgekehrt die ganze Familie Cameron auf ein Wochenende nach Schloss Meseberg einlud. Diese Ehre wurde dem französischen Präsidenten François Hollande weder in Großbritannien noch in Deutschland je zuteil, obwohl Frankreich als engster Partner Deutschlands gilt.
Wendepunkt Flüchtlingskrise
Doch das war vor der Flüchtlingskrise. Und der völlig entgegengesetzte Umgang Merkels und Camerons in dieser Frage hat viel von der Gemeinsamkeit zerstört. Während Merkel eine Politik der offenen Tür betrieb und sich mit Flüchtlingen ablichten ließ, verweigerte Cameron den Migranten von Calais, die verzweifelt versuchten, nach Großbritannien zu kommen, kategorisch die Einreise.
Auch in der Brexit-Debatte in Großbritannien spielt das Thema unerwünschte Einwanderung eine entscheidende Rolle. Die Austrittsbefürworter erwähnen immer wieder Merkels Politik als abschreckendes Beispiel. Der britische Historiker Anthony Glees sagte im Herbst auf dem Höhepunkt des unkontrollierten Migrantenzuzugs im Deutschlandfunk: "Viele Briten meinen, die Deutschen hätten ihr Gehirn verloren." Sollten sich die Briten mehrheitlich für einen EU-Austritt aussprechen, wäre die Flüchtlingskrise und Merkels Umgang mit ihr kein unwichtiger Faktor.
Was wäre wenn?
Sollte es tatsächlich so kommen, so sagen die meisten Experten auf beiden Seiten des Kanals wirtschaftliche Nachteile für Großbritannien voraus. Doch was würde ein britischer Austritt mit der EU und speziell mit den Deutschen in der EU machen? Michael Kunert ist Geschäftsführer von infratest-dimap, das die DW-Umfrage durchgeführt hat. Er glaubt, ein Grund, warum so viele Deutsche die Briten gern weiter in der EU sähen, sei, "dass ein Austritt auch ein Signal für eine weitere Desintegration der EU wäre", dass Großbritannien nur der erste Dominostein für einen allgemeinen Zerfall der Union wäre.
In jedem Fall würde Deutschland einen Partner im Kampf für mehr wirtschaftliche und finanzielle Stabilität verlieren. Europa würde "südlicher". Guntram Wolff, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, deutet die Befürchtungen im Berliner Regierungsviertel im Fall eines britischen Austritts so: "Wir werden mit all den ausgabefreundlichen Mittelmeerländern alleingelassen mit ihrer Vorliebe für Umverteilung, und wir werden für sie zahlen müssen. Das ist die große Angst."