EU und Westbalkan entdecken Geopolitik
5. Dezember 2022Nur wenige Meter entfernt vom Sport- und Kongresszentrum, in dem die EU und die Westbalkan-Staaten ihr Gipfeltreffen abhalten, steht in einem kleinen Park ein grauer Betonbunker, der an einen vergrabenen Pilz erinnert. Der Bunker ist eine von fast 200.000 Festungen, die während der kommunistischen Diktatur in Albanien angelegt wurden. Heute ist der Betonklotz im Stadtzentrum Teil einer Gedenkstätte für die Opfer die Diktatur. Über dem Boulevard, an dem der Bunker steht, wehen EU-Flaggen.
Dieser Kontrast zeigt, wie weit das einst völlig isolierte und verarmte Albanien in den vergangenen 30 Jahren vorangekommen ist. Im inzwischen modernen Tirana findet ein Gipfeltreffen der 27 EU-Staaten mit den sechs westlichen Balkanstaaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Serbien, Montenegro, Nord-Mazedonien und Albanien statt - zum ersten Mal in der beitrittswilligen Region selbst.
Das sei ein wichtiges politisches Signal, sagte ein hoher EU-Diplomat vor Beginn des Gipfels. Es solle zeigen, dass es die EU wirklich ernst meine mit der Heranführung und Aufnahme der Westbalkan-Staaten in die EU.
Immer wieder Zusicherungen für Beitrittswillige zur EU
Entsprechende Schwüre werden in der "Erklärung von Tirana", die der Gipfel verabschieden wird, zum wiederholten Male bekräftigt werden. Mit Albanien und Nord-Mazedonien verhandelt die Europäische Union seit diesem Sommer formell über einen Beitrittsvertrag. Auf den Beginn der Verhandlungen hatten beide Staaten jahrelang gewartet. Mit Serbien und Montenegro laufen die Verhandlungen bereits seit einigen Jahren. Bosnien-Herzegowina und Kosovo sind immer noch in der Anfangsphase des förmlichen Beitrittsprozesses. Ein konkretes Datum für einen Beitritt zur EU ist noch bei keinem der sechs Länder erkennbar.
Albanien gehörte nie wie die anderen fünf Staaten zum ehemaligen Jugoslawien und nimmt deshalb eine Sonderrolle ein, weil es in die Konflikte und Kriege nach Auflösung Jugoslawiens nicht direkt verwickelt war. Im Gegensatz dazu haben einige ehemalige jugoslawische Teilstaaten Probleme und Konflikte mit Serbien, das einst den Kern Jugoslawiens bildete. Im Moment steht im Mittelpunkt wieder einmal der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo, das von Serbien als abtrünnige Provinz behandelt wird und nur von 22 der 27 EU-Mitglieder als Staat anerkannt wird. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic hatte gedroht, wegen eines Streits um serbische Autokennzeichen im Kosovo nicht an dem Gipfeltreffen in Tirana teilnehmen zu wollen. Nun kommt Präsident Vucic wohl doch, nachdem ein spezieller EU-Gesandter ihn am Montag in Belgrad noch einmal bearbeitet und bekniet hat.
Der Ukraine-Krieg bringt Dynamik in die Gespräche
"Das ist natürlich ein ganz wichtiges politisches Ereignis für Albanien", sagte die Politologin Klodiana Beshku von der Universität Tirana der DW. Die EU habe einen völlig neuen Blick auf den westlichen Balkan. "Der Krieg in der Ukraine treibt die EU jetzt zu ganz neuer Leistung an", meinte Beshku. Sie habe erkannt, wie geopolitisch wichtig der Westbalkan sei. Den könne man weder russischen Aggressoren noch chinesischen Investoren überlassen. "Leider hat die EU erst einen Krieg vor ihrer Haustür gebraucht, um das zu begreifen."
Der Balkan ist schon alleine deshalb von strategischer Bedeutung, weil künftige Transportwege vom Schwarzen Meer nach Italien per Straße, Schiene und Pipeline über Bulgarien, Nord-Mazedonien und Albanien laufen sollen. Das gilt sowohl für Energie als auch für Waren und Waffen. Man will die Meerenge am Bosporus und die russischen Hoheitsgewässer im Schwarzen Meer umgehen.
Die "Erklärung von Tirana" soll die Bindung des Westbalkans an den Westen und die Ablehnung des russischen Krieges gegen die Ukraine hervorheben. EU-Diplomaten gehen davon aus, dass sich auch Serbien dieser Erklärung anschließen wird.
Aleksandar Vucic fährt einen Schaukelkurs zwischen Brüssel und Moskau. Serbien hat sich den Sanktionen der EU gegen seinen traditionellen Verbündeten Russland nicht angeschlossen. In Serbien sind Sympathiebekundungen von Nationalisten für Russland die Regel. Man werde Serbien "ermutigen", sich den Sanktionen anzuschließen, so wie das die meisten anderen Westbalkanstaaten getan hätten, sagte ein hoher EU-Beamter.
"Kohäsion" statt EU-Beitritt?
"Der Krieg hat uns gezeigt, dass gilt: Wo ein politischer Wille ist, da ist auch ein Weg", erklärte Ardian Hackaj der DW in Tirana. Die EU könne in wenigen Wochen die Republik Moldau und die Ukraine zu Beitrittskandidaten machen, weil es politisch gewollt sei. Deshalb müsse es mit entsprechendem Willen auch möglich sein, die Integration des Westbalkans in die EU zu beschleunigen. Ardian Hackaj ist Direktor des Kooperations- und Entwicklungsinstituts, einer europapolitischen Denkfabrik in Albanien. "Die EU weiß jetzt, wie wichtig der Westbalkan geopolitisch ist. Sie sollte kein schwarzes Loch auf der Landkarte lassen."
Die EU bemühte sich vor dem Gipfel, die Erfolge im ablaufenden Jahr hervorzuheben. Es gebe Ansätze besserer Zusammenarbeit beim Zugang der Balkanstaaten zum grenzenlosen EU-Binnenmarkt, Gebühren für Datenroaming würden nach und nach bis 2027 abgeschafft, Menschen aus dem Kosovo könnten wahrscheinlich 2024 ohne Visum in die EU einreisen, so hohe EU-Beamte.
"Die Menschen treten der EU bei - einzeln"
Die bisherigen Verhandlungsmethoden gehen Ardian Hackaj von der Denkfabrik in Tirana zu langsam voran. Nach den Kapiteln des EU-Vertrages stellt die EU immer neue Forderungen nach Reformen als Gegenleistung für Finanzhilfen. Nötig sei eher eine "Kohäsion", so Hackaj, also eine Angleichung von Lebensverhältnissen und Standards, wo das schon möglich sei. Auf den förmlichen Beitritt mit Vertrag warteten die Menschen sowieso nicht.
"Die Menschen treten der EU jetzt schon bei, und zwar einzeln", erklärt Ardian Hackaj. Sie stiegen ins Flugzeug und suchten sich in der EU einen Job, um sich eine Zukunft aufzubauen, was bereits möglich sei. "Die Regierungen verhandeln und verhandeln, und wenn sie fertig sind, werden sie keine Bürger mehr haben, weil die schon in Berlin, Brüssel, Rom oder Kopenhagen sind. Sie warten nicht mehr, sie gehen einfach." Und nicht nur die jungen Leute, hat der Wissenschaftler beobachtet: Auch Mittelklasse-Familien zöge es mit Macht nach Mitteleuropa.
Die EU hat das Problem des Brain drain, also des Abwanderns der Gebildeten, natürlich erkannt. Zusätzliche Wirtschaftshilfen und Investitionsprogramme sollen wirtschaftliche Chancen in den westlichen Balkanstaaten fördern. Bisher noch ohne Erfolg. Die Politologin Klodiana Beshku erzählt, dass ihre Studenten von den mühseligen, langwierigen und teils undurchsichtigen Beitrittsverhandlungen enttäuscht seien. Es gebe eine Art politische Erschöpfung. "Sie nehmen einfach eine Abkürzung und gehen - meist in die EU."