Die Feinde des Abiy Ahmed lauern überall
24. Juni 2019Die äthiopische Regierung versucht nach den von ihr als Putschversuch eingestuften Ereignissen vom Wochenende zur Normalität überzugehen: Die Situation im Land sei unter Kontrolle, sagte Regierungssprecherin Billene Seyoum Woldeyes der DW. "Seit gestern läuft ein andauernder Einsatz, um die Verantwortlichen aufzuspüren und in Gewahrsam zu nehmen", so Billene weiter.
Am Samstag hatten nach Regierungsangaben bewaffnete Angreifer ein Treffen regionaler Politiker in der Regionalhauptstadt Bahir Dar gestürmt. Der Regionalpräsident von Amhara, Ambachew Mekonnen, wurde bei dem Angriff getötet, auch ein weiterer hochrangiger Regionalvertreter war unter den Opfern. Der oberste Staatsanwalt der Region wurde schwer verletzt, inzwischen ist er nach Agenturangaben in einem Krankenhaus gestorben.
Einen zweiten Angriff gab es kurz darauf in der 320 Kilometer südlich gelegenen Hauptstadt Addis Abeba. Dort wurde laut einem Regierungssprecher der Generalstabschef der äthiopischen Armee, General Seare Mekonnen, von seinem Leibwächter getötet. Auch ein pensionierter General, der gerade zu Besuch war, wurde demnach getötet. Der Leibwächter ist laut Regierung gefasst. Ein Sprecher stellte beide Vorfälle als einen "koordinierten Angriff" in direkten Zusammenhang.
Die meisten Angreifer von Bahir Dar seien inzwischen gefasst, so Regierungssprecherin Billene: "Ich kann bestätigen, dass die meisten Hintermänner des Putschversuchs und der Ermordung hochrangiger Regierungsvertreter in Gewahrsam sind."
Mutmaßlicher Drahtzieher: Erst vor Monaten von Abiy begnadigt
Der Hauptverdächtige indes, General Asamnew Tsige, galt eine Zeit lang als flüchtig. Inzwischen ist er laut dem regierungsnahen Fernsehsender EBC in Bahir Dar erschossen worden. Asamnew ist kein unbeschriebenes Blatt: Er war erst vor einigen Monaten auf Geheiß von Regierungschef Abiy Ahmed begnadigt und nach neun Jahren Haft auf freien Fuß gesetzt worden. Er soll bereits zuvor einen Anschlag auf den damaligen Premier Meles Zenawi vorbereitet haben und war von letzterem inhaftiert worden. Asamnew gilt seit Jahren als radikaler Nationalist der Amhara-Bewegung. An seiner Führungsrolle bei dem angeblichen Putschversuch gibt es keine Zweifel, so die äthiopische Regierungssprecherin gegenüber der DW: "General Asamnew Tsige hat tatsächlich den Putsch eingefädelt und war derjenige, der ihn angeführt hat."
Abiy Ahmed: Weitreichende Reformen, große Zustimmung, viele Feinde
Äthiopien wurde jahrelang mit harter Hand regiert. Im April 2018 kam dann aber Abiy Ahmed an die Macht. Der 42-Jährige wurde von vielen Menschen im In- und Ausland als Superstar gefeiert, denn er brachte eine Reform nach der anderen auf den Weg. Er ließ tausende politische Gefangene frei, hob das Verbot mehrerer Oppositionsgruppen auf und ließ etliche hochrangige Personen mit Verbindungen zur alten Regierung festnehmen. Zudem beendete er einen 20 Jahre langen Konflikt mit Eritrea. Im Zuge einer Regierungsumbildung im Mai 2018 wurden altgediente und mächtige Funktionsträger der EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker, eine Parteienkoalition, die Äthiopien seit 1991 regiert) abgesetzt. Gleichzeitig wurden mehrere Chefs beim Militär und Geheimdienst entlassen. Hat Abiy sich damit Feinde gemacht, die sich nun mit einem Putsch rächen wollten?
"Eine viel zu simple These", meint die Äthiopien-Expertin Annette Weber: "Ich glaube nicht, dass man einfach behaupten kann, dass die Putschisten ausschließlich unter denjenigen zu suchen sind, die von Abiy abgesetzt wurden", so die Mitarbeiterin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik im DW-Interview. Es sei vielmehr umgekehrt: "Der mutmaßliche Hauptputschist (General Asamnew Tsige) ist sogar jemand, der Abiy Ahmed die Freilassung zu verdanken hat, der aber eine überaus nationalistische Amhara-Politik verfolgt, und der auch dazu aufgerufen hat, dass sich die Amharer bewaffnen sollen gegen den Rest des Landes." In Äthiopien sei zu beobachten, dass "die radikaleren Stimmen, die früher immer unterdrückt waren, jetzt sehr viel deutlicher zu hören und offensichtlich auch zu spüren" seien, so Weber weiter.
Wie geht Abiy mit den ethnischen Konflikten um?
"Radikale Stimmen, die früher unterdrückt waren." - Weber meint damit vor allem die zahlreichen Spannungen und Konflikte, die zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in dem Vielvölkerstaat Äthiopien mit rund 105 Millionen Einwohnern herrschen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge stieg nach Angaben der UN innerhalb des vergangenen Jahres auf circa 3,2 Millionen Menschen. Seit Abiys Amtsantritt haben Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes zugenommen. Einige dieser Konflikte sind im vergangenen Jahr wieder aufgeflammt. Abiy gehört der größten Ethnie der Oromo an. Die fruchtbare Hochland-Region Amhara wird hauptsächlich von der gleichnamigen zweitgrößten Bevölkerungsgruppe bewohnt. Oromo und Amharen hatten bis 2018 gemeinsam auf den Sturz von Abiys Vorgänger, Hailemariam Desalegn, hingearbeitet.
"Ich glaube, dass Abiy die ethnischen Konflikte nicht ernst genug genommen hat", sagt Annette Weber. Das sei auch für Abiy persönlich ein Problem, weil viele dieser Konflikte innerhalb seiner eigenen Ethnie - den Oromos - verliefen. Weber sagt: "Man hatte nicht den Eindruck, dass Abiy Ahmed die drei Millionen Binnenvertriebene im Land zur Priorität erklärt. Er wollte sicherlich seine eigenen Anhänger unter den Oromos nicht verprellen. Er hätte eine deutlichere Politik in der Hinsicht machen sollen."
Werden die für Mai 2020 angesetzten Wahlen wirklich problemlos stattfinden können?
"Dies ist die Kulmination einer Reihe von politischen und ethnisch motivierten Krisen seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Abiy im April 2018", sagt der Leiter des Äthiopien-Dienstes der DW, Ludger Schadomsky. "Es scheint inzwischen ausgeschlossen, dass die für Mai 2020 angesetzten Wahlen, mit denen Abiy seinen Reformkurs bestätigen möchte, wie geplant stattfinden können." Bereits der Testlauf - eine landesweite Volkszählung - habe jüngst abgeblasen werden müssen. Damit sei Abiy mit seinem Herzensprojekt gescheitert, seinen Reformkurs auch offiziell vom Wahlvolk absegnen zu lassen.
"Den Wahltermin jetzt zu verschieben - auch als Reaktion auf diesen 'Putschversuch' - hielte ich für das absolut falsche Signal", sagt Annette Weber von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die unterschiedlichen Nationalismen und die populistischen Positionierungen würden im Falle einer Verschiebung der Wahlen sehr viel schneller Überhand nehmen. Die Wahlen seien wirklich ein wichtiger Termin, um die Politik Abiy Ahmeds zu konsolidieren. Eine Verschiebung würden dem eher entgegenstehen.
Kaiser Abiy ante portas?
Egal, ob der Wahltermin wankt oder nicht; in einem sind sich die Beobachter einig: Auch nach den Vorfällen in Amhara habe Abiy Ahmed das Land weitestgehend unter Kontrolle. Ludger Schadomsky geht noch weiter: Er hält es für denkbar, dass Abiy aus dieser Krise langfristig sogar gestärkt hervorgeht: "Der als Versöhner gestartete Ministerpräsident könnte nun die Zügel kräftig anziehen. Die Schaltstellen in den Regionen, in Militär und Geheimdienst, könnten noch konsequenter von Abiy-Getreuen besetzt werden. Statt einer bisweilen grotesken Naivität entwickelt der junge Reformer endlich jene 'Roadmap', die die Bürger seit langem fordern."
Am Ende, so prophezeien es die Anhänger dieser Theorie, könnte der Regierungschef als „Kaiser Abiy" de facto absolute Verfügungsgewalt besitzen.
Mitarbeit: Mohamed Negash