"Bildung für alle"
4. Mai 2012Im letzten Report, dem Weltbildungsbericht 2011, ging es um die Auswirkungen von Kriegen auf die Bildung. Der Bericht 2012, der im Oktober erscheint, beschäftigt sich mit der Frage, wie Schulbildung und Arbeitsmarkt besser aufeinander abgestimmt werden können.
Deutsche Welle: Was ist das Hauptziel des Jahresberichts?
Pauline Rose: Wir verfolgen, inwiefern es bei den sechs Milleniumszielen für Bildung aus dem Jahr 2000 einen Fortschritt gibt. Die Frist für diese Ziele läuft schon bald, nämlich 2015, ab. Jedes Jahr sehen wir uns zum Beispiel an, ob wir die Anzahl der Kinder, die keine Schule besuchen, reduziert haben, inwieweit wir die Qualität der Bildung verbessert haben, ob mehr Erwachsene jetzt lesen und schreiben können, es im Bildungsbereich Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen gibt.
In den meisten Ländern dieser Erde gibt es eine Schulpflicht. Sehr viele Kinder besuchen zumindest die Grundschule. Was aber sagt das über die Qualität der Schulbildung aus?
Obwohl in vielen Ländern immer mehr Kinder die Möglichkeit haben, eine Schule zu besuchen, gibt es noch 67 Millionen Kinder, die dies nicht tun. Seit die Milleniumsziele 2000 festgelegt wurden, ist die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, um die Hälfte gesunken. Ein Ergebnis ist, dass es umso mehr Druck auf die Schulsysteme gibt, je mehr Kinder die Schule besuchen. Die Klassengrößen sind in vielen Ländern gestiegen, und das bringt Herausforderungen mit sich, wenn es um die Qualität der Bildung geht. Wir müssen auch berücksichtigen/verstehen, dass jetzt Kinder mit schlechteren Voraussetzungen in das Schulsystem eintreten. Sie brauchen also mehr Unterstützung und Ressourcen (Lehrer, Hefte, Unterrichtsmaterialien). Das bedeutet, wir müssen in Ländern, wo die Klassenstärken massiv zugenommen haben, wirklich aufpassen. Wir brauchen mehr und besser ausgebildete Lehrer und müssen sie stärker in ihrer Arbeit unterstützen.
In Ihrem Bildungsbericht warnen Sie davor, dass es 2015 mehr Kinder als heute geben könnte, die keine Schule besuchen. Dabei sehen die Statistiken ja gut aus. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
In der ersten Hälfte des Jahrzehnts – von 2000 bis 2004 – hat die Anzahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, rasant abgenommen. Jedoch haben sich die Zahlen in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nicht verbessert. Ein Grund dafür ist, dass die Kinder, die immer noch nicht zur Schule gehen, heute noch schwerer erreichbar sind.
Unsere Prognosen beziehen sich auf die künftige Entwicklung der (weltweiten) Bevölkerung. Dabei zeigt sich ganz deutlich, dass die Bevölkerung in einigen Ländern wachsen wird. Es ist eine Kombination aus Faktoren, aber mit Sicherheit ist zu befürchten, dass wir im besten Fall bei der Zahl von ungefähr 67 Millionen stehen bleiben. Es sei denn, es wird etwas getan.
Eines der wichtigsten Milleniumsziele ist die Chancengleichheit von Mädchen und Jungen in der Bildung. Wird dieses Ziel erreicht?
In den Grundschulen haben wir in zwei Dritteln der Länder Chancengleichheit in der Bildung erreicht. Das ist eine enorme Verbesserung im Vergleich zum Jahr 2000. Das bedeutet allerdings auch, dass es in einem Drittel der Länder immer noch keine Chancengleichheit gibt. Sie brauchen einen letzten Anstoß, und da stellt sich die Frage, ob dies die Länder sind, in denen die Probleme am schwierigsten zu lösen sind.
Afghanistan zum Beispiel hat besondere Probleme, denn Mädchen konnten dort (unter der Herrschaft der Taliban) lange Zeit gar keine Schule besuchen.
Häufig machen Mädchen die besseren Schulabschlüsse und besuchen in vielen Ländern dieser Erde die Universitäten. Aber kommen diese gut ausgebildeten Frauen überhaupt auf den Arbeitsmarkt?
Generell haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir dort, wo hinsichtlich der Chancengleichheit Verbesserungen im Bildungssystem erkennbar sind, nicht notwendigerweise das Gleiche auf dem Arbeitsmarkt beobachten können. Es gibt also Fortschritt bei der Überwindung der Diskriminierung von Mädchen in der Schule, aber dies muss noch auf den Arbeitsmarkt übertragen werden.
In Bezug auf die Wirtschaftskrise haben wir auch Bedenken, dass gerade die Frauen am schnellsten ihre Arbeit verlieren. Sie werden meist nicht als erste eingestellt, verlieren aber ihre Stelle als erste. Man braucht also mehr, um die Erfolge im Bildungsbereich auf den Arbeitsmarkt zu übertragen.
In den letzten zwölf Jahren ist viel für die Chancengleichheit von Jungen und Mädchen getan worden. Welche Strategien sind in den Ländern erfolgreich gewesen, in denen Mädchen besonders benachteiligt waren?
Es ist eine Kombination verschiedener Faktoren. Einmal geben wir Familien finanzielle Anreize. Bangladesch ist sicher ein positives Beispiel. Hier erhielten Mädchen Stipendien für den Schulbesuch. Das gab den Familien Anreiz, in die Bildung ihrer Töchter zu investieren. Wo Familien begrenzte Mittel haben und eine Entscheidung darüber treffen mussten, wen sie zur Schule schicken, haben sie sich meist für die Jungen entschieden. Die finanziellen Anreize für Mädchen reduzierten den Druck etwas, aber meistens müssen auch andere Strategien angewandt werden, um kulturelle Hindernisse zu überwinden. In West-Afrika sehen wir in Ländern wie dem Senegal, wo ein enormer Fortschritt zu verzeichnen ist, dass dieser Fortschritt mit Hilfe der Verantwortungsträger in den Gemeinden erzielt wurde. Sie haben die Bedeutung der Bildung für Mädchen betont.
In nur zehn Ländern dieser Erde leben 72 Prozent aller erwachsenen Analphabeten. Woran liegt das?
Das liegt hauptsächlich daran, dass dies Länder mit einer großen Bevölkerung sind. Aber in einigen dieser Länder machen die Analphabeten nur einen kleinen Bruchteil der gesamten Bevölkerung aus. Zum Beispiel sind in China, das eins dieser zehn Länder ist, nur sechs Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Andererseits gibt es einige kleinere Länder - viele davon in West-Afrika -, wo die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung Analphabeten sind.
In Ihrem Bericht üben Sie scharfe Kritik an den Industriestaaten, die ihre Entwicklungsausgaben für Grundbildung seit 2008 nicht erhöht haben. Welche Rolle spielt dabei die Finanzkrise?
Die Finanzkrise ist bestimmt ein Faktor, aber sie ist nicht der einzige Grund. Erstens: Regierungen haben sich dazu verpflichtet, ihre Entwicklungshilfe in den Entwicklungsländern zu erhöhen. Diese Zusage sollten sie einhalten. Zweitens: Weil sie von der Finanzkrise in ihren eigenen Ländern betroffen sind, haben sie natürlich auch mehr Druck, aber es geht ja nur ein kleiner Anteil ihres Staatshaushaltes an die Entwicklungshilfe. Dieses Budget zu kürzen hilft ihnen nicht wirklich dabei, den eigenen Haushalt zu sanieren. Dieses Argument ist eher ein Ablenkungsmanöver.
Es gibt mehrere Länder in Europa, die momentan ihre Entwicklungshilfe kürzen und gar nicht so stark von der Finanzkrise betroffen sind, wie zum Beispiel die Niederlande. Es scheint auch ein Signal für manche andere Geldgeber zu sein, in die gleiche Richtung zu gehen.
Wo sehen Sie noch die größten Baustellen in der weltweiten Bildung?
Ich meine, nach wie vor ist es grundsätzlich wichtig, allen Kindern die elementaren Grundlagen zu gewährleisten: dass sie Zugang zu einer Schule haben, dass sie die Schule auch besuchen, dass sie innerhalb der ersten vier Jahre ihrer Schulzeit Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen erwerben. Wenn es darum geht, Chancenungleichheiten zu beseitigen, braucht es einen stärkeren Anstoß. Diese Ungleichheiten halten manche Kinder vom Schulbesuch fern oder hindern sie – sobald sie zur Schule gehen –, lernen zu können. Das sind die wichtigsten Punkte.
Das Gespräch führten Sabine Damaschke und Greg Wiser.